Achtsamkeitsförderung in der stationären Altenhilfe

Abschlussveranstaltung des Modellprojektes im Verlagshaus Lensing-Carree in Dortmund am 15. November 2018:

Von links: Prof. Dr. Rita Süßmuth, Herr Stefan Juchems (Stiftung Wohlfahrtspflege NRW), Frau Bertels-Tilmann (Fachbereich des Projekts Achtsamkeit / AWO)

Wie gehe ich mit mir selbst um? 

Das Projekt „Achtsamkeit“ ist nach drei Jahren abgeschlossen. Mit nachhaltigem Erfolg.

Achtsamkeit – ein Wert, der in der heutigen Gesellschaft verloren zu sein scheint. Ein Wert, dessen Bedeutung eine so hohe Wirkung auf jeden Menschen hat, dass es sich die Arbeiterwohlfahrt in Dortmund zur Herzensangelegenheit gemacht hat, das Projekt „Achtsamkeit“ ins Leben zu rufen.

In drei Jahren wurden einzelne AWO-Mitarbeiter zu Achtsamkeitswärtern ausgebildet. „Ins Leben gerufen“, ist hier auch von symbolischer Bedeutung, geht es doch um das Leben eines jeden – auch um das eigene. 

„Wer sich selbst nicht auf sich achtet, kann auch anderen gegenüber nicht achtsam sein“, ist sich Frau Bertels-Tilmann, die Fachbereichleitung Personalleitung „Achtsamkeit“ sicher. Zur Abschlusspräsentation des Projekts sind ungefähr 70 Mitarbeiter der AWO, verschiedene Kooperationspartner, Ehrengäste und mehr im Verlagshaus Lensing inmitten der Dortmunder Innenstadt zusammengekommen.

Im vierten Stock riecht es nach Kaffee. Es ist warm, die Menschen stehen eng beieinander, versammelt um schmale Stehtische. Die Menschen hier sind herzlich und freundlich. „Hallo, mein Name ist Katharina, kann ich euch helfen?“. Hier wird achtsam miteinander umgegangen. Sich begrüßt, Getränke zu Tisch gebracht, die Jacken abgenommen. Aufmerksam. 

 

Bin ich in der Lage zu erkennen: Wie geht es mir? 

Frau Bertels-Tilmann hat den Fachbereich des Projekts Achtsamkeit erst im April diesen Jahres übernommen – und setzt seither all ihr Herzblut dafür ein. „Ich habe das Projekt seit Beginn aufmerksam verfolgt und bin wegen eines Personalausfalls eingesprungen“, schmunzelt die freundliche Dame. Sie bedauert, dass die Lehre der Achtsamkeit überhaupt notwendig ist. Schließlich sei Achtsamkeit ein Wert, der seit jeher vermittelt wird. „Wann ist das verloren gegangen?“

Das Wann ist heute nicht mehr wichtig. Viel mehr geht es um das Jetzt. Jetzt ist es an der Zeit etwas zu ändern. Der wohl triftigste Grund dafür sind die medialen Negativ-Schlagzeilen über das Miteinander in Einrichtungen der AWO, der Lebenshilfe und anderen sozialen Trägern. Dabei standen vor allem Einrichtungen für Senioren und Behindere massiv in der Kritik. 

„Es ist sehr schade, dass diese Einzelfälle das Image ganzer Träger völlig über den Haufen wirft“, Frau Bertels-Tilmann schaut zur Seite, ehe sie zurückblickt. „Gleichzeitig ist es von großer Bedeutung, dass auch diese Einzelfälle aufgeklärt werden. Es dürfen keine Grenzen überschritten werden. Darüber gibt es keine Diskussion.“

Um Achtsamkeit zu schulen, einen Wert zu vermitteln, der in Vergessenheit geraten ist, bietet die AWO-Mitarbeitern Schulungen an, die sie auch selbstständig weiterentwickeln sollen – und deren Inhalte sie an Neuzugänge weitergeben. 
 

„Die Gesellschaft ist noch nicht ganz verloren.“

Zur Abschlussveranstaltung ist ein ganz besonderer Ehrengast zu Besuch. Prof. Dr. Rita Süßmuth war in den 70er-Jahren Gesundheitsministerin für Familien, Jugend & Frauen. Noch vor dem offiziellen Veranstaltungsbeginn, zwischen klirrendem Geschirr, Tassen, die gegen etwas zu kleine Unterteller stoßen, angeregte Gespräche geführt werden und dadurch ein rauschenden Getuschel zu hören ist, will sie sich in eine der Stuhlreihen des Veranstaltungsraumes setzen. Hier ist es nicht sehr viel leiser, und doch, ist die Ausstrahlung der ehemaligen Politiker so stark, dass jedes ihrer Wörter, deutlich zu jedem Zuhörer durchdringt.

„Wissen Sie, die Gesellschaft ist noch nicht ganz verloren“, ihre Mimik ist fest, „ich habe viel Vertrauen in die Menschen. Die jüngeren Leute zeigen ein sehr großes Engagement und auch die Pflegekräfte sind von Grund auf motiviert. Es fehlt ihnen auch nicht an Fachwissen, sondern an der Pflege zu sich selbst.“ Die Professorin macht eine Pause. Viele Arbeitnehmer warten auf die Hilfe des Staats, vermutet Dr. Süßmuth, dabei sei es an der Zeit selbst anzufangen. „Die meisten fragen sich nicht: Wie stehe ich zu mir selbst? Dabei kommt es genau darauf an.“ 
 

Wer ist überfordert?

Das Pflegestärkungsgesetz ist am 1. Januar 2015 in Kraft getreten und soll unter anderem schrittweise pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige entlasten. Finanziell und personell. Dafür wurden 13.000 weitere Stellen im Bereich der Pflege geschaffen – allerdings sind aktuell mindestens 35.000 Stellen offen. 

Die Pflegekräfte leisten was Menschen möglich ist – und vergessen dabei nur zu oft auf sich selbst zu achten. Dr. Süßmuth blickt zurück: „Was haben wir für Erfahrungen mit Holocaust-Überlebenden und Kriegsflüchtlingen? Wie soll jemand, der plötzlich von einem Trauma überwältigt wird, achtsam behandelt werden, wenn die Pflegekraft überfordert ist – auch mit sich selbst?“

Die Probleme in der Pflege seien offensichtlich: Zu viel Bürokratie, zu wenig Zeit für den Menschen, zu wenig Zeit für sich. Pausenzeiten, die nicht eingehalten werden, weil doch immer wieder etwas dazwischen kommt. Ein Großteil der Pflegekräftefühlt sich nicht in der Lage, während ihrer Arbeitszeit eine bewusste Auszeit zu nehmen. Aus falsch verstandenem Teamgefühl oder auch Personalmangel, Krankheitsausfälle und ähnlichem, bleibt den Arbeitnehmern aus eigener Sicht einfach keine Zeit. Keine Zeit für sich. 

Die Veranstaltung der abschließenden Präsentation des Projekts „Achtsamkeit“ der AWO beginnt. Der Saal füllt sich, die Besucher nehmen auf den blau bezogenen, eng aneinander stehenden Stühlen Platz. Mit Blick auf eine verdunkelte Fensterfront, vor der eine Leinwand hängt, ist der rechteckige Raum sehr gefüllt. Die Besucher sind freundlich, blicken sich um, begrüßen ihre Sitznachbarn, sie sind aufgeregt. Der Moderation tritt vor das Pult, kündigt den Ablauf des Tages an. Die Veranstaltung beginnt.
 

„Jemand kann nur wertvoll für den anderen sein, wenn er auch sich selbst gegenüber wertvoll ist.“ 

Applaus. Die ehemalige Politikerin spricht in ihrer Rede hier einen Punkt an, der auf Zustimmung trifft. Mindestens der Teil der Gesellschaft, in diesem Raum, weiß um die so dringende Notwendigkeit der Achtsamkeit – wieso also bedarf es überhaupt das Projekt „Achtsamkeit“? 

„Dieses Projekt ist uns wichtig, weil wir das selbst angefasst haben. Wir wussten, diese Investition ist notwendig – und würde auf sehr viel Zuspruch treffen“, sagt eine Mitarbeiterin der AWO, die die Ergebnisse des Projekts präsentiert. Es sind einige Pflegekräfte und Projekt-Teilnehmer unter den Besuchern. Sie nicken, sie murmeln, hin und wieder ruft jemand in die Runde. Ein kräftiges Ja, ein entsetzendes Nein. Die Stimmung ist hin- und hergerissen. Eins ist jedoch klar: Es musste etwas passieren. Mit finanziellen Mitteln von über 600.000 Euro, verteilt auf drei Jahre, setzte sich die AWO auch in der Planung ein hohes Ziel – das sie erfolgreich meisterte. 

Achtsamkeit, Würde und Respekt müssen erhalten bleiben – trotz schwieriger Rahmenbedingungen hält die AWO weiterhin an dem fest, was sie ausmacht: Werte, die in Vergessenheit geraten sind und an die erinnert werden. Für jeden. 



Foto: Seminarleiterin Andrea Malsburg mit zertifizierten Seminarteilnehmern des Modellprojektes Achtsamkeit

Im Projekt

Modellprojekt Achtsamkeitsförderung in der stationären Altenhilfe 

Wie kann Achtsamkeit helfen, die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner in der stationären Altenhilfe zu erhöhen? Dieser und ähnlicher Fragen geht das Modellprojekt „Achtsamkeitsförderung in der stationären Altenhilfe“ nach. 

Es geht darum, den Umgang zwischen Fachkräften und den Bewohnerinnen und Bewohnern im oft stressigen Pflegealltag zu verbessern. In dem Projekt wird dies durch die Stärkung achtsamen Handelns erreicht. Hierfür werden Arbeitsroutinen im Pflegealltag hinterfragt. Außerdem reflektieren Fachkräfte ihr eigenes Verhalten und versuchen, Stressfaktoren möglichst frühzeitig zu erkennen. „Wir wollen wissen, welche konkreten Schwierigkeiten es im Pflegealltag gibt, was die Fachkräfte stresst und welche Unsicherheiten auftreten“ so Projektleiterin Andrea von der Malsburg. Achtsamkeit soll Fachkräfte für ihre soziale und pflegerische Arbeit stärken. 

Herangehensweise 

Durch gesteigerte Achtsamkeit wird eine individuelle und sensible Versorgung pflegebedürftiger Menschen sichergestellt. Achtsamkeitsförderung setzt bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Leitungskräften an. Der Fokus liegt aber immer darauf, die Lebensqualität von Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen zu steigern. 

Zunächst lernen die Fachkräfte in Schulungen Strategien und Methoden kennen, um im Pflegealltag achtsam zu sein - sich selbst und den Hilfebedürftigen gegenüber. Im zweiten Projektschritt werden die gelernten Inhalte vor Ort in den Einrichtungen praktisch umgesetzt. 

Im Vorfeld wurden intensive Gespräche mit den Fachkräften geführt, um zu erfahren, was im Berufsalltag besonders belastet. Hierzu wurden 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Leitungskräften aus 20 Einrichtungen interviewt. In den Gesprächen wurden Erfahrungen geschildert, bestehende Ansätze diskutiert und konkrete Bedarfe geklärt. 

Neben den Interviews wurde Fachliteratur ausgewertet. Zudem wurden Expertinnen und Experten rund um das Thema Achtsamkeit befragt. Die Ergebnisse flossen in eine Schulung, die seit September 2016 angeboten wird. Schulungsort ist das Lucy‐Romberg‐Haus in Marl (Ausbildungs‐ und Weiterbildungszentrum der Arbeiterwohlfahrt Bezirk Westliches Westfalen e.V.). 

Audio
Von links: Prof. Dr. Rita Süßmuth, Herr Stefan Juchems (Stiftung Wohlfahrtspflege NRW), Frau Bertels-Tilmann (Fachbereich des Projekts Achtsamkeit / AWO), Helge Berg (AWO), Sina Zagrebelsky, die Pflegedienstleitung des Nelly-Sachs-Hauses Düsseldorf der Jüdischen Gemeinde
Autoren
Westfälische Hochschule Gelsenkirchen, Natascha Walther, Sandra Redegeld