00191591 Marie Juchacz, Porträt am Schreibtisch, 1919, copyright: ullstein bild/Gircke
1926 hatte die Arbeiterwohlfahrt fast 2000 Ortsausschüsse. Ab Oktober 1926 erschien zweimal monatlich die Zeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“.
Im Oktober 1928 baute die Arbeiterwohlfahrt ihren Schwerpunkt in der Schulungsarbeit zur Wohlfahrtspflege - der bis dahin auf Kurse und Vorträge beschränkt war - aus und eröffnete in Berlin ihre erste und einzige Wohlfahrtsschule, in der Frauen und Männer aus der Arbeiterschaft zu Fürsorgerinnen und Fürsorgern ausgebildet wurden.
Von 1920 bis 1933 gehörte Marie Juchacz dem Reichstag an und konzentrierte sich auf sozialpolitische Fragen. Daneben äußerte sie sich zu frauenpolitisch brisanten Themen wie der Reform des Ehescheidungsgesetzes oder des Paragrafen 218 StGB.
Neben ihrer bis 1933 fortgesetzten Arbeit als Frauensekretärin der SPD im Parteivorstand arbeitete sie im Hauptvorstand des Verbandes der Arbeiterjugendvereine Deutschlands mit. Dazu kamen die zahlreichen Wahlkämpfe.
Die Arbeiterwohlfahrt rückte im Laufe der 20er Jahre zunehmend ins Zentrum ihrer Aktivitäten, die parteipolitischen Mandate und Funktionen verloren für sie an Bedeutung.
1930 starb plötzlich ihre Schwester, von der Marie Juchacz sagt, "das ständige kameradschaftliche Zusammensein mit Elisabeth [war] die am stärksten wirkende Kraft in meinem Leben." Die Buchautorin Christiane Eifert fasst die Bedeutung der Schwester wie folgt zusammen: "Elisabeth Kirschmann-Roehl hatte ab 1921 dem Preußischen Landtag angehört und vor allem in dessen sozialpolitischen Ausschuss, dem sie vorsaß, mitgearbeitet; sie hatte intensiv am Aufbau der Arbeiterwohlfahrt teilgenommen und deren Fachkommission für Anstaltswesen geleitet." Seit dem Tod der Schwester verstärkte Marie Juchacz ihre Arbeit in der Arbeiterwohlfahrt noch weiter. Privat setzte sie das gemeinsame Leben mit ihrem Schwager, Emil Kirschmann, nach dem Tod der Schwester fort. Die drei Kinder waren bereits selbständig geworden.
1933, mit der Machtübernahme Hitlers, löste sich die Arbeiterwohlfahrt selbst auf, um der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Nur einzelne ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen setzten ihre Fürsorgearbeit bis 1936 für Flüchtlinge, Inhaftierte und deren Familien ein. Marie Juchacz emigrierte gemeinsam mit ihrem Schwager Emil Kirschmann ins Saarland, wo sie in der Arbeiterwohlfahrt des Saarlandes mitarbeitete. Nach der Wiedereingliederung des Saarlands ins Deutsche Reich flohen sie weiter ins Elsass, wo sie im Widerstand und später bei der „Pariser Arbeiterwohlfahrt“ mitarbeitete.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges setzten sie ihre Flucht über Südfrankreich nach Marseille, das sie Ende 1940 erreichten, fort. Von dort aus gelangten sie über Martinique in die Vereinigten Staaten. Sie lernte die englische Sprache und baute die "Arbeiterwohlfahrt - Opfer des Nationalsozialismus New York" auf, in der sie bis 1948 arbeitete.
Anfang Februar 1949 kehrte sie nach Deutschland zurück. In ihren letzten Lebensjahren, bis zu ihrem Tod 1956, war sie Ehrenvorsitzende in der Arbeiterwohlfahrt und widmete sich der Weitergabe der Traditionen der Arbeiterwohlfahrt im veränderten Deutschland.
Sie war stets bereit zu lernen und Veränderungsprozesse zu akzeptieren, so auch die organisatorische Loslösung der Arbeiterwohlfahrt von der SPD. In dieser Zeit schrieb sie auch an ihrer Autobiografie, bei der sie zeitlich nur bis 1917 kam, und an einem Buch über herausragende Frauen aus der sozialdemokratischen Frauenbewegung mit dem Titel "Sie lebten für eine bessere Welt".
Text von Christina Rhein (Im Rahmen des Projektes "Frauengeschichten in Treptow" zeichnete die Dipl.- Soziologin Christina Rhein ein Porträt von Marie Juchacz. Anm. der Redaktion)
Quellen
• Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V.: 50 Jahre Arbeiterwohlfahrt. Bearbeitet und zusammengestellt von Lotte Lemke. Bonn 1969
• Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (Hrsg.): Marie Juchacz. Gründerin der Arbeiterwohlfahrt. Leben und Werk. Bonn 1979
• Dertinger, Antje: Marie Juchacz, aus: Schneider, Dieter (Hrsg.): Sie waren die ersten. Frauen in der Arbeiterbewegung. Frankfurt am Main 1988
• Eifert, Christiane: Marie Juchacz, aus: Hülsbergen, Henrike - Historische Kommission zu Berlin (Hrsg.): Stadtbild und Frauenleben.
Berlin im Spiegel von 16 Frauenportraits. Berlin 1997
• Juchacz, Marie/Heymann, Johanna: Die Arbeiterwohlfahrt. Voraussetzungen und Entwicklung. Berlin 1924
• Juchacz, Marie: Sie lebten für eine bessere Welt. Lebensbilder führender Frauen des 19. und 20. Jahrhunderts. Hannover 1971
• Roehl, Fritzmichael: Marie Juchacz und die Arbeiterwohlfahrt. Überarbeitet von Hedwig Wachenheim. Hannover 1961