Die Herzkammer der Herner Sozialdemokratie

Heinrich Peter Drenseck über Persönlichkeiten (wie zum Beispiel: Karl Höltkeskamp und Auguste Sindermann), die Mitgliederentwicklung und den Aufbau von AWO-Diensten und Einrichtungen in der sozialpolitischen Situation nach 1919 und nach 1945.

Hernes sozialer Herzschlag

Das komplette Ruhrgebiet lag 1918 brach. Vier Jahre zuvor war die Schmelztiegel-Region noch der Motor der deutschen Wirtschaft. Nun war der Pott selbst komplett antriebslos. Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger machten den Menschen das Leben zur Hölle. Die Schwerindustrie brummte nicht mehr. Sie gab nur noch ein leises Wimmern von sich.

Sozialdemokraten der ersten Stunde wollten anpacken und die Gesellschaft wiederaufbauen. Karl Hölkeskamp war bis zu seinem 23. Lebensjahr Bergmann und wusste daher wie kein Zweiter, wie sich die Situation für die Menschen anfühlt.

Er hatte seit 1913 den Vorsitz der Herner SPD inne. Doch seinen gleichgesinnten Freunden und ihm wurden Steine in den Weg gelegt. Keiner wollte die SPD bei sich haben, die zu jener Zeit eher ein Zusammenschluss der Arbeiterschaft und noch weit von der heutigen Volkspartei entfernt war. Für die Bewegung war es jedoch ein langgehegter Traum und notwendig, eine eigene Versammlungsstätte zu beziehen. Schon im vorangegangenen Jahrhundert traf sich die Herner Sozialdemokratie in der Gaststätte von August Bomm an der Bahnhofstraße. Allen Widrigkeiten zum Trotze, folgte am 10. Mai 1919 die Grundsteinlegung für das Volkshaus auf dem benachbarten Grundstück der Lokalität. In Eigenregie zimmerten die Genossen die Stätte. Fachkräfte wie Architekten halfen ebenfalls unentgeltlich mit.

Im Herbst desselben Jahres gründete Hölkeskamp eine Gesellschaft, um die Idee des Volkshauses zu sichern. Die Parteizentrale, eine Gaststätte mitsamt Versammlungsraum und sogar die Redaktionsräume der Herner Volkszeitung fanden dort ihr zu Hause – der Bau bildete die Herzkammer der Herner Sozialdemokratie. Der lernende und lesende Arbeiter war auch dank des Volkshauses Realität.

Ebenso schnell wie die sozialdemokratische Idee und das Volkshaus wuchs auch die Arbeiterwohlfahrt. Kein Wunder, hatte sie doch alle Hände voll zu tun. Schon nach kurzer Zeit war die AWO das sozialpolitische Sprachrohr der Arbeiterschaft. Vor allem Frauen engagierten sich in der Wohlfahrt. Führender Kopf war passenderweise Auguste Sindermann, die gleichzeitig im Rat der Stadt Herne saß.

Eine Kernaufgabe für die AWO war es, den alleinstehenden Müttern, deren Männer im Krieg gefallen waren, eine Grundversorgung zu bieten. Die Werte, die vom Volkshaus ins Herner Stadtgebiet getragen wurden, wie Solidarität und Gleichheit, passten zum Zeitgeist der Weimarer Republik. Die Zentrale war nicht mehr wegzudenken. Das Volkshaus pulsierte, die Köpfe rauchten und das Bier floss.

Allerdings ging auch die Wirtschaftskrise nicht spurlos an der Anlaufstelle vorbei. Die Arbeiter litten am meisten unter der Krise. Dadurch blieben die Einnahmen aus dem Gaststättenbetrieb aus. Hölkeskamp musste selbst private Zuschüsse liefern, um sein Baby an der Bahnhofstraße zu retten. Zudem wurde das politische Klima in Deutschland zusehends giftiger. Die Weimarer Republik war letztlich eine Demokratie ohne Demokraten. Und so brachen dunkle Zeiten für das Volkshaus an.

Die Terrorherrschaft von Adolf Hitler begann. Die Ideologie der Nazis griff in der Gesellschaft um sich. Werte und Normen änderten sich blitzschnell. Viele Sozialdemokraten wurden entlassen. Dabei wurde keine Rücksicht auf den Beamtenstatus der Arbeiter genommen. Wer verdächtig wurde, Kommunist oder Sozialdemokrat zu sein, dem drohte die Entlassung. So wurde dem Betriebsratsvorsitzenden von den Stadtwerken Herne rigoros gekündigt. Witwen, deren verstorbener Mann Sozialdemokrat war, wurden die Versorgungsbezüge entweder gekürzt oder sogar entzogen. Dies geschah nicht mit Vorbereitungszeit, sondern schlagartig. Das Leben der Sozialdemokraten wurde von heute auf morgen unterdrückt und kleingehalten.

Die Sozialdemokraten, die private Unternehmen führten, durften vorerst ihre Geschäfte behalten. Allerdings gingen die Kunden aus Angst vor den Nazis woanders hin. Die Schließung folgte. Aus einem Parteisekretär wurde plötzlich ein Brot- und Brötchenverkäufer. Die Sozialdemokraten versuchten sich so gut es ging über Wasser zu halten. Doch die Nationalsozialisten unterdrückten sie nach Belieben. Entweder wurden sie einfach nicht mehr eingestellt oder die Arbeitszeugnisse wurden so ausgeführt, dass sie nirgends eine Stelle bekamen.

Nicht nur den Arbeitern wurde das Leben unmöglich gemacht, sondern auch anderen Privatpersonen. In jedem Lebensbereich, wo man auch hinschaute, war ein Nationalsozialist da. Die ständige Angst lähmte die nicht-regimetreuen Bürgerinnen und Bürger Hernes.

Das einzige, was den Sozialdemokraten vorerst blieb, war das Volkshaus. Doch auch die Bahnhofstraße 8b war Ende 1933 Nazi-Revier. Die neuen Machthaber machten aus dem ehemaligen SPD-Treffpunkt eine NSDAP-Gaststätte. Auch das Vermögen der Partei steckten sich die Nazi-Kader in die Tasche. Es wurde alles dafür getan, den Frieden, die Freiheit und Gerechtigkeit der Menschen zu unterdrücken. Die Ziele, Werte und Normen der Sozialdemokraten wurden vollständig ausgelöscht. Niemand war dazu befähigt, seine Meinung ohne Strafe zu äußern. Es schien den Sozialdemokraten unmöglich, für ihre Ziele zu kämpfen.

Sie versuchten deshalb lange Zeit im Untergrund, die Menschen aufzuklären und zu warnen. Bis 1936 existierte - selbstverständlich illegal - ein Zirkel von Sozialdemokraten. Der Zirkel, zu dem unter anderem Robert Brauner gehörte, fuhr bis nach Holland um an Flugblätter zu gelangen. Dafür bekamen sie die volle Bandbreite des Naziterrors zu spüren: Als die Kontaktperson gefasst wurde und der Zirkel aufflog, wurden die Mitglieder unkenntlich geprügelt, inhaftiert und schließlich ins Konzentrationslager deportiert. Wie durch ein Wunder überlebten Brauner und seine Partner.

Neben dem Zirkel existierte von 1933 bis 1935 der „Blick in die Zeit“. Dort berichteten Pressestimmen des In- und Auslandes über die Vorgänge in Deutschland.

Mitgliedsbuch

Am 20. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ in Kraft. Dieses regelte den äußeren Aufbau der Betriebe und führte in der Wirtschaft das Führerprinzip ein. Im Jahre darauf wurden das „Gesetz über den Reichsarbeitsdienst“ und die „Nürnberger Gesetze“ abgesegnet. Diese umfassten die sogenannten „Rassengesetze“ und „Reichsflaggengesetz“. Schon vorher wurden demokratisch gewählte Vertreter im Reichstag von SS-Schergen bespuckt und drangsaliert. Nun war es endgültig. Menschen wurden in Rassen eingeteilt und klassifiziert. Die Gedanken waren nicht mehr frei.

Jeder wusste, was in Deutschland vor sich ging. Die Menschen kannten die Gesetze. Aus Angst wurden keine Fragen gestellt. Ein Leben miteinander war unmöglich. Es wurde beim Einkaufen nicht mehr gegrüßt und sich unterhalten. Höchstens ein „Heil Hitler“ bekamen die Menschen zwanghaft über die Lippen. 1940 waren die Nazis so sehr mit der Außenpolitik und dem Krieg beschäftigt, dass sie die innerpolitische Lage vernachlässigten. Und so lief alles aus dem Ruder. Die Politik hatte vollkommen versagt.

Das Ruhrgebiet wurde Opfer des totalen Kriegs. 124 Menschen starben am 9. April 1945 in Herne. 436 weitere wurden obdachlos. Die Stadt war ein Trümmerhaufen. Herne lag wieder brach.

Das Volkshaus mitsamt Gastwirtschaft und dem großen Saal blieb jedoch erhalten. Und so nahm die SPD die neu gegründete Volkshausgesellschaft in ihren Besitz. Nach und nach ging es bergauf. Die Sozialdemokraten begannen von neu. So ist die Herner Arbeiterbewegung, wie sie 1933 auseinanderging, 1945 wieder zusammengekommen. Die Ziele - Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit - konnten wieder umgesetzt werden. Hölkeskamp wurde Stadtdirektor..

Und auch die AWO war gefragt. Knapp 15.000 Kriegsflüchtlinge fanden in Herne ihr neues zu Hause. Um die Erst- und Grundversorgung kümmerte sich auch die Arbeiterwohlfahrt. Solidarität wurde gelebt. Bergleute, die selbst auf engstem Raum mit ihren Familien lebten, nahmen trotzdem Geflüchtete bei sich auf – in ihre hoffnungslos überfüllte Wohnungen. Küchen wurden zum Kinderbaden zweckentfremdet erfüllt.

Doch das Land und die goldene Stadt mussten aufgebaut werden. Die Schwerindustrie sollte wieder brummen, der Pott-Motor dem Land wieder Antrieb geben. Es war kein Problem, die Tausenden zu integrieren. Schließlich pulsierte das Volkshaus wieder, die Köpfe rauchten und das Bier floss.

Autoren
Westfälische Hochschule Gelsenkirchen, Justus Heinisch