Rede von Renate Alsuth zum 40-jährigen Jubiläum des AWO-Stadtverbandes Witten
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen, liebe Freunde,
die heutige Feier soll an einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Wittener Arbeiterwohlfahrt erinnern.
Vor ca. 40 Jahren, im Jahre 1975, trat die Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen in Kraft, die Stadt Witten verlor ihre Kreisfreiheit und wurde in den Ennepe-Ruhr-Kreis eingegliedert. Die bis dahin selbständige Stadt Herbede wurde nach Witten eingemeindet.
Diese kommunalpolitischen Ereignisse hatten natürlich auch Einfluss auf die Organisation der Arbeiterwohlfahrt.
Die Ortsvereine der Herbeder AWO schlossen sich der Wittener AWO an, die AWO Witten verlor ihren Kreisverbandsstatus und wurde Mitglied des Kreisverbandes Hagen-Ennepe-Ruhr.
Der nunmehrige Stadtverband Witten behielt zunächst seinen Geschäfts-führer und verwaltete seine hauptamtlichen Einrichtungen selbst. Das änderte sich 1979, als die AWO Ortsvereine des Ennepe-Ruhr-Kreises den Kreisverband Ennepe-Ruhr gründeten. Die gesamten hauptamtlichen Einrichtungen und Dienste werden seitdem vom Kreisverband bzw. Unterbezirk verwaltet, der seine Geschäftsstelle für eine Übergangszeit in Hagen hatte und heute seinen Sitz in Gevelsberg hat.
Die Statusänderung der Wittener AWO vollzog sich nicht ohne harte, sehr kontroverse Diskussionen zwischen den Verantwortlichen in Witten, aber auch mit dem Kreisverband. Es dauerte sehr lange bis man sich zusammen gerauft hatte. Bei dem einen oder anderen in Witten kommt sicherlich auch heute noch etwas Wehmut auf, wenn er an die Zeit vor der kommunalen Neuordnung und der Statusänderung der Wittener AWO denkt.
Er denkt an die Aufbauarbeit nach dem Kriege und an die Dinge, die erreicht wurden. Im Mai 1945 ging der zweite Weltkrieg zu Ende. Witten war bereits am 11. April 1945 von den amerikanischen Truppen besetzt worden.
Für viele Menschen war das eine Erlösung, war es Befreiung von Verfolgung. Die ständige Gefahr von den Nazis ermordet zu werden, weil man eine andere Meinung hatte, eine andere Nationalität oder einen anderen Glauben hatte war vorbei.
Das Erbe, welches die Nazis hinterlassen hatten war katastrophal, es herrschten trostlose Zustände. 45% der Gebäude in Witten waren vollständig zerstört und 24% schwer beschädigt. Berge von Schutt versperrten die Straßen. Nur die Haupt-straßen waren notdürftig begehbar gemacht worden.
Die Ernährungslage war schlimm. Im April 1945 erhielt ein Normalverbraucher über 18 Jahre: 350g Fett, 500g Fleisch, 250g Zucker, 6000 g Brot, 6000 g Kartoffeln und zwar für die Dauer von 4 Wochen. In den folgenden Ausgabeperioden erhöhten sich die Verbrauchssätze geringfügig.
Die Menschen hungerten und froren, es fehlte am Notwendigsten. Man musste stundenlang anstehen, um ein Brot zu bekommen. Nicht selten waren die Waren ausgegangen, wenn man nach stundenlangem Anstehen die Ladentür erreicht hatte. Die Kinder liefen oftmals bis in den späten Herbst barfuß, da es keine Schuhe gab. Viele Deutsche resignierten und dachten nur ans überleben, es gab für sie keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Schwarzhandel und Schiebertum blühten. Viele Menschen waren gezwungen ihre letzten Habseligkeiten, die letzten Wertgegenstände, die sie gerettet hatten auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, oder gegen Lebensmittel zu tauschen, um zu überleben.
In dieser Situation fanden sich Männer und Frauen, die während der Weimarer Republik in der AWO und der SPD aktiv waren zusammen, um dem Elend entgegenzutreten. Sie gründeten die, während der Nazizeit verbotene Arbeiterwohlfahrt wieder.
Auch in Witten fanden sich schon 1945, unmittelbar nach Beendigung des Krieges Frauen und Männer in den ersten AWO-Gruppen zusammen. Die ehrenamtlich tätigen Helferinnen und Helfer der Arbeiterwohlfahrt fassten die Probleme zielstrebig an. Es gab überall was zu tun. Heimkehrende Soldaten, die oftmals ihre Familien nicht mehr vorfanden waren zu betreuen Obdachlose und Heimatlose mussten untergebracht werden, aber auch die Einheimischen hatten vieles, oftmals alles verloren und brauchten Unterstützung und Hilfe.
Spenden, die aus dem Ausland kamen mussten verteilt werden. Sie mussten vorher ausgepackt, sortiert und wenn es Kleidung war von den Helferinnen zu Hause oder in den Nähstuben der AWO, die damals entstanden, ausgebessert und umgearbeitet werden.
Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß es in diesen Notzeiten, in denen es auch den Helferinnen und Helfern der AWO am Notwendigsten fehlte und der Schwarzhandel blühte, bei der Verteilung der Hilfsgüter kaum zu Unkorrektheiten oder gar Unterschlagungen kam.
Es ist nicht festzustellen wann sich die Wittener Ortsvereine zu einer übergeordneten Organisation auf Stadtebene zusammenschlossen, ich vermute aber, dass das bereits sehr früh, spätestens 1946 erfolgte.
Die erste Vorsitzende der „Arbeiter-Wohlfahrt Ortsausschuss Groß-Witten so hieß die erste ganz Witten umfassende AWO-Organisation, war Elfriede Amelong, Leiterin des Gesundheitsamtes und Vertreterin der Frauen in der Wittener SPD. Elfriede Amelong war in der Weimarer Republik Fürsorgerin in Annen und wurde im März 1933 aufgrund Aktivitäten in der SPD beurlaubt und im Juni 1933 entlassen.
Ein weiterer Mann der ersten Stunde in der Arbeiterwohlfahrt war Richard Grünschläger, Senior, der Vater unseres früheren Landtagsabgeordneten und späteren Regierungspräsidenten. Auch Richard Grünschläger, Sen. war schon während der Weimarer Republik Sozialdemokrat. Die Gaststätte Grünschläger war Vereinslokal des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, einer Kampforganisation zum Schutze der Republik, die überwiegend aus Sozialdemokraten bestand. Richard Grünschläger sen. arbeitete schon frühzeitig ehrenamtlich für den Verband und übernahm später auch den Vorsitz der Wittener AWO.
Auf der Reichskonferenz der Arbeiterwohlfahrt 1965 in Nürnberg wurden neue Richtlinien und Mustersatzungen für die Verbandsgliederungen verabschiedet. Ab sofort heißen die Ortsausschüsse Ortsvereine, die regionalen Gliederungen Kreis-, Bezirks- und Landesverbände, der Hauptausschuss heißt Bundesverband. Das betraf natürlich auch Witten.
Weitere Vorsitzende waren in chronologischer Reihenfolge bis heute, Irma Heßmer, Helmut Pulpanek, Marianne Lübeck von der ich das Amt vor 20 Jahren übernommen habe. In der Amtszeit von Irma Heßmer erfolgte die Gebietsreform und die Eingliederung der Wittener AWO in den Kreisverband Hagen-Ennepe-Ruhr und dann die Gründung des Kreisverbandes Ennepe-Ruhr.
Die Aufgaben und Aktivitäten der Ortsvereine und des Stadt- bzw. Kreisverbandes wechselten im Laufe der Jahrzehnte. Die Arbeiterwohlfahrt passte ihre Aktivitäten immer den sozialpolitischen Notwendigkeiten an. In den Jahren der Wiedergründung 1945 bis zur Währungsreform, galt es die schlimmsten Notlagen zu lindern. Nach der Währungsreform 1948 besserten sich die Verhältnisse sehr schnell, obwohl es auch dann noch eine Menge zu tun gab.
Die Ortsvereine kümmerten sich um in Not geratene Menschen in ihrem Bereich, unterstützten sie durch finanzielle und materielle Zuwendungen. Veranstalteten Ausflüge für Kinder und Erwachsene. In ihren Gruppenstunden bastelten sie, um durch den Verkauf ihrer Erzeugnisse auf Basaren das für ihre sozialen Aktivitäten notwendiges Geld zu bekommen.
Die Arbeit im Kreis-/ Stadtverband nahm zu, eine Bürokraft musste eingestellt werden, um den Vorsitzenden von Büroarbeit zu entlasten. Später wurde dann ein hauptamtlicher Geschäftsführer eingestellt, erst Herr Domitra und dann Sieghardt Schneider.
Während der Amtszeit von Irma Heßmer gelang es viele Begegnungsstätten einzurichten. Ziel von Irma Heßmer und dem Vorstand war es, für jeden Ortverein eine Begegnungsstätte, ein „Zuhause“ zu haben, was auch weitgehend gelungen ist. Als erste ständige Einrichtung wurde der Dienst „Essen auf Rädern“ eingerichtet. In Spitzenzeiten wurden durch diesen Dienst täglich bis zu 500 Essen verteilt. Die Verteilung erfolgte durch ehrenamtliche Helfer, die eine kleine Aufwandsentschädigung erhielten, später durch Zivis.
Es folgte der Bau des Kindergartens „Auf dem Schnee“, dann die Kindergärten in Heven, Stockum und Annen. Die Sozialstation wurde eröffnet, zunächst als ABM-Maßnahme. Gesetzliche Regelungen für Sozialstationen gab es damals noch nicht.
Im Bereich der Freizeitgestaltung hatte der Kreis/Stadtverband Witten ein großes Angebot, Tanznachmittage, Sommerfeste, Theatervorführungen und ähnliches wurden häufig im Saalbau angeboten. Erholungsaufenthalte für Mütter mit Kindern, Familien und Senioren in von uns ausgesuchten Häusern, aber auch in Einrichtungen und bei Veranstaltungen des Bezirks gehörten zum festen Programm.
Viele Jahre lang war das Ferienhilfswerk ein wichtiges Angebot des Stadtverbandes. 400 - 500 Kinder wurden während der Sommerferien in zwei Durchgängen mit ehrenamtlichen Betreuern in die verschiedensten Urlaubsorte geschickt. Viele Jahre hatten wir einen festen Stamm von Betreuern, die schon lange vor Beginn der Ferien regelmäßig und intensiv geschult wurden. Ohne diese Frauen und Männer wären die Erholungsmaßnahmen nicht durch zuführen gewesen.
Ich erwähnte es bereits eingangs, dass es bei der Umstrukturierung der Wittener AWO heftige Diskussionen und sehr viel Skepsis gab, ob die Neuorganisation der AWO im Ennepe-Ruhr-Kreis gut sei. Jetzt nach über 40 Jahren muss man sagen, dass es der richtige Schritt gewesen ist. Die Arbeiterwohlfahrt hat sich weiterentwickelt. Neue Dienste und Aktivitäten, insbesondere im hauptamtlichen Bereich sind auch im Ennepe-Ruhr-Kreis, zu dem Witten jetzt gehört, hinzukommen.
Aber auch im ehrenamtlichen Bereich hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan.Ortsvereine haben sich aufgrund der Altersstruktur der Vorstände aufgelöst oder wie es seit 2016 der Fall ist, dem Stadtverband angeschlossen.
Der Stadtverbandsvorstand hat Überlegungen angestellt was man den Mitgliedern anbieten könnte. Wir haben die Obergasse als Begegnungsstätte übernommen und „aufgehübscht“. Dort bieten wir immer montags von 14 – 16 Uhr einen offenen Treff an. Aber auch andere Aktivitäten finden in den Räumen statt. Wie erwartet werden die Begegnungen sehr gut besucht. Auch unsere Angebote, wie Ausflugsfahrten und bunte Nachmittage in den Seniorenzentren werden gut angenommen. Dadurch haben wir auch schon ein paar neue Mitglieder gewinnen können.
Die Mitgliederzahlen und damit das Potential an ehrenamtlichen Helfern geht altersbedingt zurück. Ich hoffe, dass es uns gelingt, Wege zu finden, diesen Prozess aufzuhalten und umzukehren.