Über Maria Janz, die Nachkriegszeit in Dortmund und die Kinderlandverschickung der AWO
Martin Janz: Meine Oma Maria Janz (geb. Kleinsorge)
(1907 – 1986)
Wie es der jungen Maria die ersten Jahre in Dortmund erging, können wir nur noch mutmaßen.
Auf der einen Seite, war ihr Vater gerade als Bauernsohn aus dem Sauerland zugewandert um an der Industrialisierung teilzuhaben und hatte sich an die völlig anderen Lebensbedingungen anzupassen. Auf der anderen Seite blühte Dortmund durch die Dampfmaschinen unterstützte Industrialisierung auf.
Die Stadt erlebte eine nicht vorstellbare Entwicklung. Immer mehr Steinkohlezechen wurden abgeteuft. Immer mehr Stahl kochende Hochöfen wurden in Betrieb gesetzt und ließen den nächtlichen Himmel über Dortmund erröten.
Der Arbeitskräftebedarf führte dazu, dass vor allen Dingen Menschen aus dem Sauerland, aus Ost- und West-Preußen, aus Süddeutschland und Italien zuwanderten. Die Unternehmen schafften es auch dadurch, dass sie Werber in die Länder schickten. Sie mussten zur Unterbringung der neuen Arbeitskräfte Siedlungen, die sogenannten Kolonien, in den vielen Vororten bauen. So verdoppelte sich die Zahl der Einwohner von 1895 bis 1910 auf 21.2725.
Dies hatte u. a. auch einen gewaltigen Aufschwung der Bier-Industrie zur Folge.
Aber der junge Vater Martin Kleinsorge mit seiner Familie in der Siegfried Straße?
Nur aus knappen Erzählungen wissen wir, dass das Leben der Kleinsorges zuerst ziemlich erbärmlich war. Spätestens aber mit dem Erwerb des Hauses Mallinckrodt Straße 111 haben sich die Lebensumstände deutlich verbessert.
Maria machte eine Lehre zur 'Modistin'. Heute wäre sie Hutmacherin, die Hüte für Frauen und Kinder entwirft und fertigt. In einem solchen Handwerksberuf werden Einzelanfertigungen hergestellt und zu den Aufgaben der Modisten gehört natürlich auch der Verkauf ihrer Kreationen im Ladengeschäft.
Irgendwann zwischen den Weltkriegen engagierte sie sich bei der Arbeiterwohlfahrt, kurz AWO genannt.
Die junge Maria aus dem fernen Ruhrgebiet begleitete einen Schwarm kleiner, unterernährter Kinder aus Dortmund in die pommersche Sommerfrische. Organisiert wurden die Ferienaufenthalte von der AWO. Die AWO wurde am 13. Dezember 1919, mit der Zustimmung des Parteihauptausschusses der SPD, gegründet.
Nachdem der 1. Weltkrieg 1918 verloren ging, herrschte in den Kreisen der Arbeiterklasse aufgrund der immensen Arbeitslosigkeit großer Hunger und unbeschreibliche Not. Exemplarische Beispiele hatte die Familie Kleinsorge tagtäglich vor ihren Augen. Das Arbeiterquartier in der Nordstadt Dortmunds litt unerträglich. Die Menschen waren der bürgerlichen Armenpflege und ihren Almosen ausgesetzt.
Zuerst versuchten vor allem die Frauen der örtlichen Gliederungen von SPD und den Gewerkschaften die schlimmsten Nöte vor Ort zu lindern. Es war eine gegenseitige Hilfe der Arbeitslosen und ihren Familien.
Die AWO, unter der Führung von Maria Juchacz und der späteren Bürgermeisterin von Berlin, Luise Schröder, bot nun eine Plattform, um reichsweit die entwürdigende Armenpflege breitester Bevölkerungsschichten zu bekämpfen.
Es ist anzunehmen, dass die Kleinsorges, immerhin Besitzer eines Mehrfamilienhauses, um die erdrückende Situation im nahen Schüchtermann-Block, rund um den Nordmarkt gelegen, wusste.
Sie konnten die menschenunwürdigen Zustände in der gesamten Nordstadt wahrnehmen. Nur so ist es zu erklären, dass die jüngste Tochter, einer seit vielen Generationen im Katholizismus tief verwurzelten Familie, aktiv in einer von der Sozialdemokratie geführten Bewegung mitzuwirken vermochte.
Die eigenen Erfahrungen des Familienvaters Martin Kleinsorge auf seiner 'Wanderung' vom Sauerland nach Dortmund und die ersten erbärmlichen Jahre in der Siegfriedstraße, mit den unzulänglichen Lebensbedingungen, könnte das soziale Gewissen der Familie zusätzlich geschärft haben. Immerhin hatte die Familie, als sie in der Siegfriedstraße wohnte, es nötig, männliche Untermieter, mit Anspruch auf Vollpension, in die damalige Wohnung gegen Bezahlung aufzunehmen.
Die angesprochenen Kinderlandverschickungen verliefen nach Zeitzeugenaussagen ehemaliger, betroffener Kinder ungefähr so:
Die Schulkinder wurden vom Lehrpersonal gefragt, wer denn gerne in den Urlaub fahren würde. Allein um dem Schmutz, dem Hunger für einige Zeit entgehen zu können meldeten sich ganze Schulklassen. Im Jahre 1923 zeigt auch die 9-jährige Elli Dost aus der Blumenstraße auf. Wochen später musste Elli mit ihrer Mutter zum Amtsarzt.
Ausziehen. Auf die Waage. Nee, was bist'e dünn, entsetzte sich die Arzthelferin. Der Arzt hörte Elli ab, schaute ihr in den Mund und sagte: Du kommst nach Pommern!
Große Freude, zuerst. Aber, je näher der Tag der Abreise rückte, umso größer wurden bei Elli die Trennungsangst und die Trauer.
Mutter und ihr großer Bruder sprachen ihr gut zu. Es gab keinen Koffer. Elli trat die große Reise mit einem verschnürten Schuhkarton an. Die wenigen ärmlichen Kleidungsstücke nahm der Karton spielend auf. Über die Münsterstraße hinauf zum Bahnhof. Zu Fuß. Für die Elektrische Bahn fehlte das Geld. Auf dem Bahnhof standen hunderte von Kindern mit ihren Müttern. Die meisten hatten wenigstens einen Koffer.
Die Halbwaise Elli, der Vater war tödlich verunglückt auf Union, einem Stahlwerk, hatte nur den Karton. Nachdem die französischen Besatzungs-Soldaten den Zug untersucht hatten, nahmen 800 Kinder diesen in Beschlag.
Und es halfen ihnen beim Einsteigen, beim Platzsuchen und beim Verstauen des Gepäcks die jungen Frauen der AWO. Elli fuhr bis zum Ort Naugard.
Der Bauer Ernst Pagenkopf holte sie am Bahnhof mit dem Pferdewagen ab. Martha, seine Schwester auf dem Hof, sagte zu Elli: „Dich werden wir schon aufpäppeln“. Es gab Napfkuchen, Braten, Stullen mit Wurst, Schinken und Butter, Sahne, und richtigen Kaffee und unverdünnte Milch.
Elli hat dies alles noch nie gesehen.
Diese kurze Schilderung soll nur die Bedeutsamkeit der AWO und ihrer Aktivitäten uns in der heutigen Zeit deutlich machen.
Maria - oder Ria wie sie genannt wurde - kam so also AWO-Betreuerin im Jahre 1925 nach Pommern und lernte dort den Rechnungsführer Otto Janz kennen. Wie häufig Maria noch nach Pommern fuhr, wann sie ganz von Dortmund wegzog, ist uns nicht bekannt.
Aber wie sie sich in Pommern fühlte, dass sehen wir auf den Fotos aus der Zeit. Sie posiert lustig mit ihrer Schwester vor dem Kaufhaus, lächelt voller Anmut von ihrem Motorrad oder widmete sich Freude strahlend ihren Kindern.
Aus ihren späteren Erzählungen mussten wir auch zur Kenntnis nehmen, dass Pommern kein 'wilder Osten' war, sondern schon damals echt zivilisiert. Fließend Wasser und Strom, war in den Häusern natürlich die Selbstverständlichkeit. Es gab Verkehrsbusse und Privatautos. Grundsätzlich wurde man in dem Agrarland richtig satt. Also ein ungetrübtes Leben.