Valeria und Helmut Kieseier schaffen seit 32 Jahren ein Sommerparadies für alle Kinder

Ehepaar Kieseier

Seit über 32 Jahren wird die Stadtranderholung in Recklinghausen ehrenamtlich von dem Ehepaar Kieseier organisiert und betreut. Jedes Jahr kommen in den ersten fünf Wochen der Sommerferien über 300 Kinder im Alter zwischen 6 – 14 Jahren.

Das bunte Buch der 300 Enkelkinder

Von Charlotte Köhler

Valerias Stimme zittert. Sich an diesen Tag zu erinnern, fällt ihr schwer. „Die Mollbeck brennt“. Ein Ort, der jeden Sommer für 300 Kinder zum Zuhause wurde. Ihr Mann muss den Satz beenden. „Unser Zuhause stand in Flammen“. Helmut und Valeria sind seit 47 Jahren verheiratet. Liebevoll nennt er sie Valés. Nur er darf das. Er weiß, wann ihr die Tränen kommen. Weiß, wann ihre Stimme bricht. Und er das Wort übernehmen muss.

Valeria und Helmut verstehen sich blind. Beginnt sie eine Geschichte, weiß er schon genau, was sie erzählen wird. Er ergänzt durch detailverliebte Anekdoten und schaut verträumt, wenn sie spricht. So, als würde ihre Stimme ihn in eine andere Zeit entführen. In jedem Zentimeter ihres gemeinsamen Büros steckt das Herzblut der beiden. Eine Fliege schwirrt durch den Raum. In der Stille erscheint ihr Summen ohrenbetäubend. Ihren Artgenossen ist es nicht so gut ergangen. Die Leimrolle, die sich von der Decke des weißen Containers windet, wurde ihnen zum Verhängnis.                                                         

In der Schreibtischschublade stapeln sich Handtücher. Bunt bedruckt strahlen Prinzessinnen und Superhelden um die Wette. Daneben ein einsames Paar Schuhe mit Klettverschluss. Helmut strahlt: „Die Kinder haben hier den ganzen Tag über so viel Spaß, da gehen sie sogar barfuß nach Hause und bemerken es nicht mal“. Stolz klingt in seiner Stimme mit. Die Vorfreude der beiden erfüllt den Raum. Hier laufen die Vorbereitungen für die Stadtranderholung. Ein Ferienangebot der AWO, das in diesem Sommer seinen 65. Geburtstag feiert.  

Die Tür des Büros steht weit offen. Die frische Luft strömt gemeinsam mit dem Gesang hunderter Vögel in den Raum. Die Mollbeck in Recklinghausen ist ein schöner Ort. Ein grüner Fleck, in der Mitte des Ruhrgebiets, der jeden Sommer für 300 Kinder zum Urlaubsparadies wird. „Wir machen das jetzt schon seit 32 Jahren“, erzählt Valeria. Helmut nickt. „Die Standranderholung im Freibad Mollbeck gibt es schon so lange, sogar ich war als Kind hier“. Mit der Arschbombe vom Dreimeterbrett. Im Sand Traumschlösser bauen. Wasserschlachten. Ein Sommerparadies.

„Die Stadtranderholung ist wichtig. Hier dürfen Kinder, egal mit welcher Geschichte, einfach mal Kind sein“, sagt Helmut mit ungewohnt ernster Stimme. „Das Projekt darf nicht sterben“, sagt Valeria. Hilfesuchend wandert ihr Blick zu ihrem Mann. „Vor vier Jahren war nicht klar, wie es mit der Stadtranderholung  weitergeht“, beginnt Helmut die Geschichte vom schwersten Tag in seinem Leben. „An dem Tag haben wir nicht einmal gefrühstückt. Als das Telefon klingelte, lagen wir noch im Bett“, sagt Valeria. Ihre Stimme bricht. „Man sagte uns, die Mollbeck brennt. Mir standen die Tränen in den Augen. Wir haben uns nur angezogen und sind direkt los. Kein Frühstück, nichts. Wir konnten nur noch zusehen, wie es brennt.“

Das Gebäude neben dem Freibad, das jeden Sommer für fünf Wochen zum Herzstück der Freizeit und Zuhause von Helmut und Valeria wurde, brannte. Lichterloh. „Wie der Brand entstanden ist, wissen wir nicht“, erzählt Helmut. „Die Spurensicherung hat von einem technischen Defekt gesprochen. Wir müssen das dann glauben“, sagt Valeria. Darüber zu sprechen, fällt ihr auch nach vier Jahren noch schwer.

Die Stadtranderholung finanziert sich durch Spenden- und Fördergelder. Nur ein geringer Teil wird durch die kleinen Beiträge der Kinder abgedeckt. Der Neubau eines Hauses. Finanziell unmöglich. „Die Stadt hat uns sehr geholfen“, erzählt Valeria. Ein Lächeln schleicht sich kaum erkennbar auf ihr Gesicht. Bürgermeister Tesche setzte sich für die beiden ein. Die Recklinghäuser Zeitung im September 2014. Bestimmt durch den Überlebenskampf der Stadtranderholung. Die Resonanz der Bürger sei unglaublich gewesen, erzählt Valeria. „Unzählige haben gespendet.“ Der Bürgermeister ließ Container aufstellen. Die Stadtranderholung war gerettet.

Christoph Tesche überreichte Valeria und Helmut einen goldenen Schlüssel. „Das war ein wunderschönes Gefühl. Wir hatten wieder ein Zuhause.“ Hastig wischt sie sich eine einzelne Träne von der Wange. Der Schlüssel, umringt von Unterschriften, strahlt von der Wand des Büros. Unterschriften von Politikern, Mitarbeitern der AWO und des Jugendamts. Es sind Unterschriften voller Dank. Valeria und Helmut können sie alle entziffern. Darum, fein säuberlich, ein roter Rahmen.

„Eigene Enkelkinder haben wir leider nicht, dafür jeden Sommer 300“, Valeria strahlt. Jährlich werden die beiden für fünf Wochen zu liebevollen Großeltern. „Wir wollen Kindern einen Urlaub ermöglichen. Viele Kinder kommen aus schlechten Verhältnissen“, erzählt Helmut. „Es sind Kinder dabei, die kennen kein warmes Mittagessen und kommen morgens ohne Frühstück. Viele von ihnen sind bitterarm“. Valeria und Helmut haben schon traurige Geschichten miterlebt. „Es sind Kinder dabei, die Liebe suchen. Elternliebe. Da müssen wir als Betreuer aufpassen und die Distanz bewahren“, sagt Helmut. Doch das ist nicht immer leicht. „Eine Geschichte ist uns besonders nah ans Herz gegangen“, beginnt Valeria.

Helmut weiß, von welchem Jungen Valeria erzählen wird. „Der Junge tobte. Tobte wie ein Weltmeister. Zwei Betreuer haben versucht, ihn festzuhalten. Aber er hatte so eine Kraft“. Sie rief damals den Notarzt. Doch auch der Ärztin gelang es nicht, den Jungen zu beruhigen. Dann kam die Polizei. „Drei Polizisten versuchten, was den Betreuern nicht gelang. Doch nach ein paar Minuten waren sie ebenso schlimm hergerichtet.“ Valeria macht eine Pause. Die Männer und Polizisten sollen geblutet haben. Der Arm des Betreuers war übersäht mit Blutergüssen. Die Polizisten mussten den Jungen mit Kabelbindern fixieren. Ein elfjähriger Junge. Voll Wut und Kraft.

Mollbeck

„Wir riefen den Vater an, er müsse seinen Sohn abholen. Der erwiderte nur, dass er im Baumarkt sei und keine Zeit habe“, Helmut schüttelt den Kopf und greift sich ans Herz. „Nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich der Vater.“ Valerias Stimme stockt. „Dieser Mann war eine Erscheinung. Erst kam die Alkoholfahne, dann kam lange nichts. Und dann kam ein Vater, der seinen Sohn am Arm riss und Zuhause weiß Gott was mit dem armen Kind anstellte“. Valeria hat Tränen in den Augen. An dieser Geschichte habe sie lange zu kauen gehabt.

„Schaut man morgens in die Rucksäcke der Kinder, dann sind da immer noch das nasse Handtuch und der Badeanzug vom gestrigen Tag drin. Da sind keine Eltern, die sich kümmern“. Valeria ist oft entrüstet über das Verhalten einiger Eltern. „Viele unserer Kinder hier wachsen in furchtbaren Verhältnissen auf. Man kann nicht alle retten, aber man kann ihnen fünf sorgenfreie Wochen geben. Das ist viel wert.“

Valeria und Helmut suchen Nachfolger. „Wir machen so lange weiter, bis wir jemanden gefunden haben. Die Stadtranderholung darf nicht sterben“. Tausende kleine und große Erinnerungen aus 32 Jahren machen die beiden zu einem unschlagbaren Team. Manchmal wünscht sich Valeria, sie hätte Buch geführt. Es wäre ein buntes Buch gewesen, sagt sie. Das Buch der Stadtranderholung.

 

Video: Der Wandel der sozialen Arbeit. Imagefilm 'AWO FÜR ALLE', 1988
Kapitel Ferienfreizeiten Norderney: Stadtrand- und Ferienfreizeiterholung für Kinder in den 80er Jahren.

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Autoren
Westfälische Hochschule Gelsenkirchen, Charlotte Köhler und Celina von der Linden