Im Interview: Esther Palmer, Sozialarbeiterin und systemische Therapeutin. Sie ist die Fachbereichsleitung des Ambulant Betreuten Wohnens für Menschen mit psychischen Erkrankungen und/oder Suchterkrankungen in Herten.
Psychiatrie, das ist für viele noch immer die Klinik mit den weißen Fliesen und den versperrten Türen.
1955 zählte man in Westdeutschland 90.000 stationäre Betten, 1970 waren es 117.000, fünf Jahre später erschien die „Psychiatrie-Enquete“ des Bundestages. 26 Experten forderten darin ambulante Dienste, betreutes Wohnen, eine Gleichstellung psychisch und körperlich Kranker - letztendlich, dass psychisch Kranke ein Leben führen, wie alle anderen auch.
Vor über 40 Jahren wurde im Bundestag ein Buch vorgestellt. Dieses Buch hieß Psychatrie-Enquete. In diesem Buch wird beschrieben, wie schlecht Menschen mit psychischen Erkrankungen behandelt wurden. Dadurch sind viele neue Gesetze entstanden. Dadurch kann die AWO heute Menschen mit psychischen Erkrankungen helfen, wieder in einer eigenen Wohnung zu leben.
„Es gibt nicht das Falsche, nur das Andere“
Er war neun Jahre alt, als er im Sandkasten saß und der Teufel kam und sagte „Hallo“. Später als Erwachsener hatte er Halluzinationen auf allen Sinnen. Er roch, schmeckte und sah Dinge, die außer ihm niemand wahrnahm. Am schlimmsten waren diese Teufel. Aus dem Nichts tauchten sie auf und nisteten sich tief in seinen Kopf ein.
Irgendwann habe ich einfach zu ihm gesagt: Wenn Sie mit mir in einem Raum sind, dulde ich keine Teufel. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie die Teufel rausschicken. Irgendwann ist es tatsächlich gelungen und er hat die Teufel raus geschickt. Sein betreuender Arzt hat mich gefragt, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte, ihm so etwas zu sagen. Aber hey - es funktionierte. Aus den Teufeln wurden kurz darauf Zwerge, die gar nicht mehr so schlimm waren. Gut ist das was hilft, und nicht das, was man sagt, was helfen soll.
Die Augen der Sozialarbeiterin und Therapeutin Esther Palmer leuchten. Sie ist die Fachbereichsleitung des Ambulanten Betreuten Wohnens für Menschen mit psychischen Erkrankungen und/oder Suchterkrankungen in Herten.
Ein Gespräch über Herausforderungen, Herzblut und Heißgetränke
Frau Palmer, was ist das Schöne an Ihrem Beruf?
Ich habe ein grundsätzliches Interesse an Menschen, vor allem an denen, die in ihrer Psyche und Seele verletzt, und aus ihrem Lebensrhythmus rausgefallen sind. Es macht mir Freude, dieses ein Stück ihres Lebensweges zu begleiten. Mir ist es immer wichtig, den Begriff Begleitung zu benennen, nicht Betreuung. Wir bestimmen nicht, wir unterstützen.
Es kommen Menschen zu uns die beispielsweise sagen: „Mir gings überhaupt nicht gut, oft habe ich wieder so viele Stimmen gehört und ich konnte das Haus nicht verlassen.“ Dann bleibt natürlich der Mülleimer oft voll und der Kühlschrank leer.
Und wie helfen Sie Ihren Klienten dann im Alltag?
Wir gehen mit ihnen einkaufen, führen Gespräche und veranstalten Gruppenaktivitäten wie zum Beispiel gemeinsam frühstücken, kochen, kegeln und wandern. Wir unterstützen unsere Klienten bei allem, was sie nicht alleine bewältigen können. Die Meisten unternehmen sehr wenig. Als wir unsere erste Freizeit machten, entstanden bei den Klienten Glücksmomente, das ist wirklich kaum vorstellbar. Auch wenn es nur die Eifel oder Holland war.
An Ihrem Strahlen merkt man, die Leidenschaft für Ihren Beruf. Was ist Ihre Motivation?
Genau! Es sind die Erfolge, die uns am meisten motivieren. Was wir uns selbst in den Weg stellen, ist die Idee, dass wir etwas verändern können. Das können wir nicht. Ich kann Menschen auf etwas hinweisen, ihnen Impulse geben, aber verändern kann jeder Mensch sich nur selbst. Und sicherlich ist die Beziehung, die wir zu den Menschen haben, von Bedeutung. Auch auf dieser Ebene funktioniert die Zusammenarbeit. Wir sind teilweise die einzigen Kontakte unserer Klienten. Für uns ist unsere Haltung wichtig. So wie du bist, bist du in Ordnung. Mit all deinen Symptomen und dem ganzen Krempel, den du mit dir herumträgst.
Das klingt plausibel. Was ist da Ihr genaues Erfolgskonzept?
Wir gehen davon aus, dass kein Mensch für sich alleine krank ist. Die Krankheit entsteht im Kontext von Gesellschaft. Jeder Mensch kann wachsen. Jeder Mensch hat Ressourcen. Jeder Mensch hat eigene Fähigkeiten. Wir finden heraus welche das sind und wie wir unterstützen können. Es ist wichtig, die Krankheit zu benennen und sie nicht wegzudenken. - Sie überlegt einen Moment - Es gibt nicht das Falsche. Es gibt nur das Andere. Menschen sind Individuen. Auch in ihrer Erkrankung. Wie der individuelle Mensch unter seiner individuellen Erkrankung leidet, wissen wir deshalb noch lange nicht.