EinFALL für die Pflege - Schreibwerkstatt & PoetrySlam

Impressionen aus der Schreibwerkstatt ...

Schreibwerkstatt und PoetrySlam-Workshop

Ziel des Projektes ist es, die wichtigen und positiven Aspekte des Pflegeberufes durch die geschriebenen und vorgetragenen Geschichten aufzuzeigen. Damit soll die Entscheidung zu Ausbildung oder Beruf in diesem Bereich (auch als Quereinsteiger*in) angeregt werden.

Der AWO Bezirk Westliches Westfalen möchte diesen eher unkonventionellen Kommunikationsansatz erproben, um die positiven Seiten (z. B.: die Anerkennungskultur: soziales Engagement, generationsübergreifende Verantwortung, Menschlichkeit, Sinngebung, Aufstiegschancen) des Berufsbildes ‚Pflege’ darzustellen und so dem drohenden Pflegenotstand und Fachkräftemangel vorzubeugen.

Im Jahr 2018 wurde dazu einerseits eine „Schreibwerkstatt-Gruppe” vom AWO Bezirksverband Westliches Westfalen gegründet. 

Die „Schreib-/Medienwerkstatt-Gruppe” traf sich viermal im Jahr 2018 zu je 2-tägigen Seminaren inkl. Übernachtung im Freizeitwerk Welper/Hattingen und im Schnapp‘s Hof am Möhnesee. Gefördert wurde diese Aktion von der GlücksSpirale.

Die Gruppe erarbeitete fiktive Kurzgeschichten rund um das Thema Pflege. Die Texte sollen eine große Bandbreite unterschiedlicher Blickwinkel auf das Thema zeigen und so die Vielschichtigkeit der „Schreibwerkstatt-Gruppe“ widerspiegeln. Alle Genres waren erlaubt: ob Krimi, Liebesroman, Science Fiction, Western, Komödie, Satire und vieles mehr...

Die Popularität der digitalen Medien (E-book, Social Media, etc.) will das Projekt bei der Publikation der in der Schreibwerkstatt entstandenen Texte nutzen, dort veröffentlichen und eine Verknüpfung zum Thema „Ausbildung in der Pflege” herstellen. Außerdem ist eine Lesereihe unter Mitwirkung eines populären Schauspielers geplant durch Einrichtungen und Ausbildung der Pflege, Buchhandlungen oder Bibliotheken. Eine Veröffentlichung und der kostenlose Vertrieb eine Buches im Eigenverlag ist denkbar.

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Als Seminarleiter konnte der Bezirksverband dazu den Romanautor und Dozenten Sascha Pranschke aus Dortmund gewinnen.

Sascha Pranschke, geboren 1974, studierte an der Universität Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Danach arbeitete er zunächst als Dozent, Journalist und Texter und leitete das ‚Junge Literaturhaus Köln’. Seit 2002 gibt Sascha Pranschke Seminare für literarisches und journalistisches Schreiben im Auftrag verschiedener Bildungseinrichtungen und Institutionen und verhilft in zahlreichen Workshops Menschen, ihre Geschichten zu Papier zu bringen.

2017 wurde er mit dem Förderpreis des Literaturpreises Ruhr ausgezeichnet.
 

 

Poetry Slam-Workshop in Kamen (neben der Schreibwerkstatt)

In Kamen fanden in dem Fachseminar für Altenpflege an zwei Tagen am 3. und 4. September 2018 eine Schulung für den ganzen Klassenverband statt. Das Team von WortLautRuhr (Sebastian 23/Poetry Slam im Ruhrgebiet) aus Herne schulte die Teilnehmer im Alter von 21 bis 25 Jahren. 

Die „Poetry-Slam-Gruppe“ ist ein zweiter, eigenständiger Bestandteil des Projektes. Ziel ist es, mittels eines weiteren „jugendlichen” Medium, jungen Menschen, aber auch sogenannte „Quereinsteiger*innen” für eine Ausbildung in einem Pflegeberuf zu begeistern.

Teilnehmer dieser Gruppe waren im Wesentlichen Schülerinnen und Schüler der Fachseminare für Altenpflege. Ergänzt durch junge Beschäftigte in der Pflege. Inhaltlich thematisierte die Gruppe den „Lebens- und Arbeitsalltag” in der Pflege mit Visionen, Wünschen und Forderungen junger Menschen zu diesem Arbeitsfeld.

 

Der Hintergrund: die Idee zum Projekt ‚EinFALL für die Pflege‘

Ausgangssituation:

„Pflegeberufe – Berufe mit Zukunft” oder „Pflege geht jeden etwas an”, so oder ähnlich lauten zahlreiche Schlagwörter, die die Wichtigkeit der Pflege und Pflegerufe betonen wollen.

In jeder Lebensphase können Menschen pflegerische Unterstützung benötigen, entsprechend vielfältig und vielseitig sind die Arbeitsfelder die den Menschen in Pflegeberufen offen stehen. Pflege findet statt in den Wohnungen der pflegebedürftigen Menschen, in teil- und vollstationären Pflegeeinrichtungen, in Kliniken und an vielen anderen Orten.

Die Dankbarkeit der Menschen, die Vielseitigkeit der Tätigkeitsfelder, die optimalen Berufschancen und guten Aufstiegsmöglichkeiten sollten die Pflegeberufe eigentlich zu interessanten und attraktiven Berufen machen.

Aber: Bereits heute fehlen in den Pflegeberufen Fachkräfte. Auch wenn amtliche Zahlen aktuell nicht besetzter Stellen für Pflegekräfte nicht vorlegen, zeigen Statistiken, z.B. der Bundesagentur für Arbeit (Stand: Juni 2017), dass Stellenangebote für examinierte Altenpflegefachkräfte durchschnittlich 167 Tage unbesetzt bleiben und auf 100 gemeldet Stellen 32 Arbeitslose kommen. Ähnlich verhält es sich in der Krankenpflege. (z. B. Pflegestatistik 2015 und Studie des Statischen Bundesamtes und des Bundesinstitutes für Berufsbildung, Afentakis/Maier 2010).

Prognosen über zukünftige Entwicklungen in der Pflege variieren. Allen Prognosen gemein ist jedoch ein zu erwartender Anstieg an alten Menschen, die ein deutlich höheres Risiko für Pflegebedürftigkeit in sich tragen als die Gesamtbevölkerung, und somit auch ein zu erwartender ansteigender Bedarf an Pflegefachkräften. Gleichzeitig wird aufgrund der Alterung der deutschen Gesellschaft eine Verschärfung der Lage auf dem Arbeitsmarkt erwartet.

Die Pflegeberufe werden sich der zunehmend verschärfenden Konkurrenz um Nachwuchs auf dem Arbeitsmarkt stellen müssen. Das Forschungsinstitut Prognos geht davon aus, dass es bereits 2020 einen deutlichen Mangel an Pflegekräften geben wird. Eine intensive Bewerbung und Stärkung des Images der Pflegeberufe wird zwingend notwendig sein, wenn die Pflegeberufe und somit die professionelle Versorgung pflegebedürftiger Menschen nicht ins Abseits geraten sollen.


Projektziel

- Ziel des Projektes ist es, junge Menschen, aber auch sogenannte „Quereinsteiger*innen” für eine Ausbildung in einem Pflegeberuf zu begeistern.

Zur Erreichbarkeit junger Menschen (digital Natives) durch online Medien: „Always on” – Smartphones und Internetzugang sind aus dem Alltag von Jugendlichen nicht mehr wegzudenken. Laut der aktuellen JIM-Studie haben 99 Prozent der 12- bis 19-Jährigen – zumindest selten – Zugang zum Internet, und das unabhängig von Geschlecht, Alter oder Schulbildung. 89 Prozent sind täglich online und verbringen dort durchschnittlich 221 Minuten am Tag um zu chatten, e-mailen, spielen und sich unterhalten zu lassen (mpfs 2017:30).

Mit zunehmendem Alter der Jugendlichen, wenn das Interesse an aktuellem Weltgeschehen, Politik, Ausbildung und Beruf steigt, spielt das Internet auch für die Suche nach Informationen eine wichtige Rolle: 49 Prozent der 16- und 17-Jährigen nutzen neben Fernsehen, Radio und dem Gespräch mit Freunden und Familie häufig das Internet, um sich zu informieren (mpfs 2017:18).

Eine zentrale Anlaufstelle ist es auch für die Suche nach einem Ausbildungsplatz: In einer Befragung von Schüler*innen in Hamburg zur Berufsorientierung gaben 58 Prozent an, hierfür das Internet in Anspruch zu nehmen (Arbeitskreis Einstieg 2006: 9). Und viele werden fündig. Das Onlineportal ausbildung.de hat 2017 knapp 2000 Auszubildende befragt. Hier gab jede*r Zweite an, seinen Ausbildungsplatz im Internet gefunden zu haben, zum Beispiel beim Surfen auf der Homepage oder Karriereseite des Unternehmens, auf Online-Portalen oder via Social Media (Territory 2017:4). Im Zeitalter der Digitalisierung haben Institutionen, die junge Menschen für sich gewinnen wollen, somit die Chance, diese direkt in ihrer Lebenswelt zu erreichen.

YouTube ist dabei ein besonders beliebtes Angebot (mpfs 2017: 32) und die Begeisterung der Jugendlichen für dieses Format und für ganz „normale“ Menschen, die dort selbstproduzierte Inhalte unterhaltsam darbieten, zeigt, was in den Sozialen Medien besonders gut funktioniert: authentische Protagonist*innen und Informationen, die unterhaltend aufbereitet sind.

Diese Grundaffinität zu digitalen Medien will das Projekt bei der Publikation der in der Schreibwerkstatt/des PoetrySlamWorkshop entstehenden Texte nutzen und eine Verknüpfung zum Thema „Ausbildung in der Pflege” herstellen.

Projektidee:

Mit zahlreichen Kampagnen versuchen Ausbildungsträger, Einrichtungsträger oder kommunale sowie staatliche Institutionen junge Menschen für einen Pflegeberuf zu begeistern. Die meisten bedienen sich hierbei der Unterstützung von professionellen Kommunikations- und Medienagenturen.

In der Ausrichtung lassen sich in den meisten Kampagnen (siehe hierzu: www.altenpflegeausbildung.net/fachinformationen/projekte-kampagnen-und-studien.html) die folgenden konzeptionellen Elemente, in unterschiedlicher Ausrichtung, wiederfinden.

• Informationsvermittlung zum Berufsbild und zur Ausbildung
• Module zur Online Bewerbungen
• Anerkennungskultur
• Imageverbesserung des Berufsbildes

Die Kampagnen greifen hierbei oft die folgenden „Stilmittel“ und „Aktionsformen“ auf: Bildliche Darstellung von „schönen, jungen und begeisterten Menschen“, Testimonials von Prominenten, Pflegefachkräften, Auszubildenden und Pflegebedürftige, Wettbewerbe.

Fast immer werden die folgenden Motivationsmotive aufgegriffen: Soziales Engagement, Generationsübergreifende Verantwortung, Menschlichkeit, Sinnstiftung, Aufstiegschancen. Viele Kampagnen arbeiten multimedial mit einem entsprechend hohen Budget: Internetportal, Social Media, Großflächenwerbung, Videofilme/Kinowerbung, Flyer/Poster/Roll-Ups/ Messestände.

Ohne die Sinnhaftigkeit und den Erfolg der zahlreichen Kampagnen in Frage stellen zu wollen, beabsichtigt der AWO Bezirk WW einen bisher nicht gewählten, eher unkonventionellen Kommunikationsansatz zu erproben.

Im Jahr 2018 wurde eine „Schreib/Medienwerkstatt-Gruppe“ und eine „Poetry-Slam-Gruppe“ gegründet. Diese Gruppen bestanden aus ca. 15 Personen und setzten sich wie folgt zusammen: Auszubildende in der Pflege, Mitarbeitende in der Pflege, Lehrende in der Pflege, Ehemals in der Pflege Beschäftigte, Ehrenamtliche aus dem pflegenahen Bereich.

Diese sollten folgende Grundmotivationen mitbringen: Phantasie und Kreativität, Spaß am Geschichten erzählen und Schreiben, Gute Kommunikationsfähigkeit, Affinität zu „Social Media“.

Gefördert von der GlücksSpirale

 

 

Beispieltexte

Warum?

Von Patrick Körner, PoetryWorkshop Kamen

Hä, wo bin ich, was mache ich hier? Wo sind meine ganzen Sachen, meine Besitztümer? Kein Licht hier, nur ein kleiner Spalt, wo Sonne durchscheint. Das ist doch nicht mein Bett, auch nicht meine Bettwäsche. Ich bin doch fremd hier. Hier riecht es komisch. Das ist doch nicht mein zu Hause. Nein, ich bin mir sicher, hier fühle ich mich nicht wohl. Zu Hause da habe ich mich immer wohl gefühlt, oder!? Vertue ich mich? Ich bin ganz durcheinander. Soll ich mal gucken gehen? Ich habe Angst. Was ist das für ein rotes Licht? Ein Schalter. Ich traue mich einfach. Ich drücke ihn jetzt. Was wohl passiert? Oh, die Tür geht auf. Fürchtend frage ich vorsichtig „Hallo - wer ist da?“.

Eine freundliche Stimme antwortet: „Guten Morgen Frau K. Haben Sie gut geschlafen?“ Ich bin erschrocken. Woher kennt diese Person meinen Namen und wieso habe ich hier geschlafen? „Guten Morgen, junge Dame. Wer sind Sie und wo bin ich hier? Wieso bin ich nicht zu Hause?“ Freundlich antwortet die junge Dame mir: „Ich bin Schwester Marion.“ „In Ordnung, Schwester Marion. Können Sie mir bitte sagen, was ich hier mache?“.

Sie setzt sich auf das Bett indem ich liege und legt ihre Hand auf meine. „Sie sind doch hier in der Pflegeinrichtung für Senioren in Dortmund. Ganz in der Nähe von dem Ort, an dem Sie gewohnt haben.“ Erschrocken falle ich der Dame ins Wort: „Gewohnt habe? NEIN, ich wohne noch da!“ Ich merke wie mir die Tränen in die Augen schießen. „Was soll das hier, warum darf ich nicht nach Hause, warum halten sie mich hier fest? Wo ist denn mein Mann? ALFRED…ALFRED…? Wo ist denn der schon wieder?!“

„Ganz ruhig.“ sagt Schwester Marion und versucht meine Hand zu streicheln, die ich von ihr wegnehme. „Einen kleinen Moment, ich bin gleich wieder da, Frau K.“ Die Schwester geht aus dem Zimmer. 

Pflegeeinrichtung? Kein Zuhause mehr? Was redet die Dame nur? Ich bin so verzweifelt. Ich gehe jetzt einfach. „AUA“. Mir tuen meine Hüfte und mein Bein so weh. Ich kann gar nicht aufstehen. Warum denn nur nicht. Oh, es klopft. „Herein!“ eine Schwester und noch eine Damen. „Guten Morgen Frau K. Ich bin Schwester Susanne. Ich habe gehört ihnen geht es nicht gut.“ „Ich bin verzweifelt Schwester Susanne. Die andere Dame hat mir gesagt, ich wohne hier in einer Pflegeeinrichtung und mein Mann ist auch noch nicht da. Ich bin so verwirrt Schwester, bitte helfen sie mir!“ „Da hat meine Kollegin Recht, Frau K. Sie sind gestern hier zu uns gekommen, direkt aus dem Krankenhaus. Sie sind doch gestürzt, wissen sie nicht mehr?“ fragt die Schwester mich. 

„Gestürzt!? Nein, das kann nicht sein!“ „Doch!“ erwidert Schwester Susanne. „Sie sind zu Hause gefallen und haben sich dabei den Oberschenkelhals gebrochen. Sie sind doch auch operiert worden. Sie waren zwei Wochen im Krankenhaus. Ihre Töchter haben dann entschieden, dass es besser ist, wenn Sie hier bei uns leben.“

Wutentbrannt antwortete ich darauf, „Die können doch nicht einfach über meinen Kopf hinweg etwas entscheiden!“ „Aber das sind doch nach dem Tod Ihres Mannes ihre Betreuerinnen. Die dürfen entscheiden, wenn es ihnen zu Hause noch mehr schadet als es geschadet hat. Zu Hause sind sie wohl öfter gestürzt und als Sie die Pflegestufe hatten, haben ihre Töchter dann die Betreuung für sie übernommen.“

„WAS? Mein Mann ist doch nicht tot. Sie lügen mich an. Ich rufe gleich die Polizei!“. Nervöser und nervöser werde ich. Ich bin nicht mehr Herr meiner Selbst. Klar denken kann ich nicht. Ich stehe doch völlig neben mir. Ich bekomme einen Saft. Ich werde müde. Plötzlich schlafe ich fest. 

„Mama, hey Mutti, du erzählst das ja, als ob es gerade passiert wäre. Hier trink mal einen Schluck Wasser und beruhige dich erstmal.“

„Ach Gott mein Mädchen, du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für ein Gefühl für mich war. Es ist schon drei Monate her und trotzdem laufen mir heute manchmal die Kullertränchen die Wange runter. Das wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht. Und jetzt mein Mädchen, fühle ich mich auch schon wohler. Meine Lieblingskommode ist da, mein Alfred auf dem Bild oben auf der Kommode stehend mit diesem schönen Bilderrahmen dazu. Meine Vorhänge und meine so schöne lecker frisch gewaschene und gut riechende Bettwäsche, die wir am liebsten hatten, dein Vater und ich. Ach - und den Teppich da unter meinem Tisch. Der muss auch da liegen, mein Mädchen, nicht das ich stolpere und falle. Und alle sind so nett zu mir. Ich glaube, ich werde hier bald richtig zu Hause sein.

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Adieu Marie 

Von Rosemarie Marberg, Schreibwerkstatt

Die Sommersonne durchflutet den Raum, in dem ich schweigend stehe.
Ich friere, kann nicht reden, nicht lachen, nicht weinen.
Ich sehe das leere Bett. 
– Marie ist fort und sie wird nie wieder zurückkehren.
Marie liebt Puppen, schöne alte Puppen, mit denen sie redet, deren Haare sie kämmt, deren Kleidchen sie wäscht. Gestern noch waren sie voller Leben. Süße, lächelnde Mädchengestalten.
Sie lächeln nicht mehr. Sie sind erstarrt. 
Ich höre Maries Stimme, die mich ruft: Schwesterchen, komm
‘ doch mal her – 
Ich höre ihre Stimme, wie sie singt: Sah‘ ein Knab ein Röslein steh‘n, Röslein auf der Heiden 

Ich fühle ihre warme, weiche Hand, die die meine streichelt, weil sie mich gerne hat. Ich habe sie auch gern, diese liebenswürdige, fröhliche, wunderbare alte Dame. 
Ich sehe das leere Bett. 
– Tränen rinnen über mein Gesicht. Adieu Marie, ich vergesse dich nie. 

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Die Fremde in meiner Welt

Von Marina Laskan, Schreibwerkstatt

Ich war nervös. Es war mein erster Tag in der Altenpflege. Ich bekam einen Laufzettel, auf dem stand, wie ich ungefähr arbeiten sollte. Ich hatte dreizehn Bewohner zu versorgen. Nach der Übergabe nahm ich den Pflegewagen und fing einfach an, immer der Reihe nach. 

Um 7 Uhr piepste mein Piepser. Es war Zimmer 409. Ich schaute auf meinen Zettel, doch das Zimmer war nicht dabei. Ich überlegte nicht lange und ging durch den langen Flur. Das Zimmer lag auf der linken Seite. An der Tür stand der Name einer mir unbekannten Dame. Frau Irle hieß sie. Ich klopfte an, öffnete vorsichtig die Tür und ging in Richtung des Bettes. Die Bettwäsche war keine gewöhnliche Bettwäsche. Sie war aus weicher Baumwolle und besaß Reißverschlüsse. Aus dem Badezimmer hörte ich, wie jemand höflich aber bestimmt sagte: "Machen Sie bitte erst mein Bett." 

Ich richtete Frau Irle das Bett und klopfte dann an der Badezimmertür. Die Dame bat mich, hineinzukommen und sofort die Tür zu schließen, weil sie immer fröre. In ihrem Bad war es sehr warm, da sie ihre Heizung voll aufgedreht hatte. 

Ich fragte, wie ich ihr helfen könne. Sie stand da mit nacktem Oberkörper und tupfte mit einem Waschlappen vorsichtig ihr Gesicht ab. "Waschen Sie bitte meinen Rücken", sagte sie. "Aber vorsichtig! Mein Körper ist sehr empfindlich. Und die Waschlappen sind ja so rau hier. In diesem Haus wird nicht viel Wert auf die Bewohner gelegt." 

Ich nahm, ohne ihr zu widersprechen, den Waschlappen und führte die Rückenpflege durch. Ich sollte ihren Rücken abtupfen, nicht abreiben, und anschließend vorsichtig mit Eukalyptusöl einreiben, damit ihre Haut geschmeidig blieb. Ich sollte mir dafür Zeit nehmen, weil ihre übrige Pflege nicht zeitaufwändig sei. 

Ich fragte, ob es ihr nicht zu warm sei? 

"Ich kann es hier so warm haben, wie ich will", antwortete sie laut. "Schließlich bezahle ich genug." 

Als ich mit der Grundpflege fertig war, fragte ich, ob ich ihr noch weiter behilflich sein könne. Sie wandte mir ihr Gesicht zu. "Gehen Sie und machen sie einfach hinter sich die Tür zu." 

Als ich die Zimmertür öffnete, hörte ich Frau Irle noch sagen: "Man merkt, dass es wieder eine Neue ist!" 

Ich schloss die Tür hinter mir. 

Es vergingen nun einige Wochen, und ich gewöhnte mich langsam an den Alltag im Pflegeberuf. Ich war für alle die nette Schwester Katharina. Mit meinen Kollegen verstand ich mich gut, und die Bewohner schlossen mich in ihr Herz. Ich liebte meine Arbeit und es wurde wie ein zweites Zuhause. Ich versuchte, allen gerecht zu werden und alles so zu machen, wie man es mir beigebracht hatte. 

Aber das Zimmer 409 gab mir einfach keine Ruhe. Ich sprach oft mit meinen Kollegen über Frau Irle. Für die anderen war sie einfach die Dame aus Zimmer 409. Ihre Zimmerausstattung und ihr Kleidungsstil verrieten, dass sie früher eine angesehene Person gewesen sein musste. Sie trug immer elegante Kleidung. Am liebsten ihre schwarzen Hosen und ihre kalten, dunklen Kaschmirpullover. So wie ihr Kleidungsstil, streng und kalt, so war sie auch immer zu mir. Was mir aber aufgefallen war: Sie hatte die Wörter bitte und danke nie ausgelassen, auch wenn sie ansonsten so abweisend wirkte.

Nach einiger Zeit lernte ich ihre Wünsche und Bedürfnisse kennen. Ich wusste, dass ihr das Essen im Heim nicht schmeckte und ich den Teller immer gefüllt zurück bekommen würde. Ich weiß noch, wie es während der ersten Wochen war. Wenn ich ihr das Essen brachte, lehnte sie es einfach ab. Die Kollegen hatten mir beigebracht, vor den Mahlzeiten die Tellerhaube abzunehmen, damit die Hauswirtschaft sie sofort zurückbekam. Aber ich würde auch nicht wollen, dass der Aufschnitt austrocknete, bevor ich ihn essen konnte. 

Eines Tages brachte ich Frau Irle ihr Mittagessen. Auf dem zugedeckten Teller gab es noch heiße Tortellini mit Tomatensoße und als Dessert einen kleinen Obstsalat. "Mahlzeit, Frau Irle", sagte ich und stellte das Tablett auf Ihren Tisch, den eine Decke aus Satin zierte.

Frau Irle saß auf ihrem blauen Sessel, rechts von ihr stand eine alte Kommode mit vielen Bildern, auf denen sie und ein junger Mann zu sehen waren. Ich fragte mich oft, wer dieser  Herr gewesen war. Wie immer, wenn ich in ihr Zimmer kam, entfernte Frau Irle gerade die Fusseln von ihrem Pullover. "Guten Appetit, wünsche ich ihnen, Frau Irle!" Und ohne auf eine Antwort zu hoffen verließ ich das Zimmer. Mittlerweile wusste ich, wie lange Frau Irle brauchte, um zu speisen – oder um so zu tun, als würde sie essen. Ihr Tablett räumte ich immer zum Schluss ab, auch wenn der Speisewagen schon längst weg war. Gegen 13:00 Uhr betrat ich wieder ihr Zimmer mit der Frage: "Frau Irle, hat es ihnen geschmeckt?" Natürlich erwartete ich dieselbe Antwort wie immer. "Nein es hat mir nicht geschmeckt", beschwerte sie sich jeden Tag. Aber heute schaute sie mich an und sagte: "Danke, es hat gut geschmeckt." 

Sie stand auf und ging zu ihrem Nachtschränkchen. Sie öffnete die untere Schublade und bat mich einen Moment zu warten, was ich auch tat. Mit einer Tafel Schokolade kam sie in meine Richtung. "Sie heißen Schwester Katharina, richtig?" Dabei streckte sie ihren Arm aus. Ich stand überrascht da. "Danke Schwester Katharina, dass sie die Haube auf dem Teller gelassen haben. Die anderen kommen immer mit kaltem Essen."

"War das Essen denn warm genug?", fragte ich mit einem zufriedenen Lächeln. 

"Ja es war wunderbar", sagte sie und bat mich, eine Tafel Schokolade anzunehmen. 

Ich bedankte mich und verließ dann das Zimmer. 

Nach Feierabend hatte unser Wohnbereich eine Teamsitzung. Die Wohnbereichsleitung teilte uns mit, dass ab sofort das Zimmer 409 komplett von uns Pflegehelfern übernommen würde. Das freute mich. Denn obwohl Frau Irle so kalt zu uns Pflegekräften war, wusste ich doch, dass sie sich nur vor neuen Dingen verschloss und ihre Bedürfnisse manchmal nicht aussprach. Und so kalt, wie sie wirkte, konnte sie gar nicht sein. Denn immer nach dem Mittagessen ging Frau Irle ihren Bruder besuchen, der auch in unserem Wohnbereich lebte. Sie blieb immer bis zum Abendessen bei ihm im Zimmer, und ich habe oft gehört, wie sie sich über alte Zeiten unterhielten. Schließlich erkannte ich, dass der Mann auf den Fotos auf ihrer Kommode ihr geliebter Bruder war. 

Am nächsten Tag hatte ich wieder Frühschicht. Ich begann mit meinen normalen Runde. Bevor es 7:00 Uhr wurde, klopfte ich bei Frau Irle, und sie bat mich herein. "Guten Morgen Frau Irle, ich komme sofort zu ihnen. Wenn ich ihnen eben das Bett zurecht machen darf?" 

Sie öffnete die Badezimmertür einen kleinen Spalt und schaute mich verwundert an. "Nanu, Sie hier?" 

"Ja, Frau Irle, ich bin sofort bei ihnen" Nachdem ich das Bett gemacht hatte, ging ich zu ihr ins Bad. Bevor ich fragen konnte, ob sie gut geschlafen habe, drehte sie sich zu mir um. 

"Schwester Katharina, was machen Sie hier? Haben sie denn genug Zeit? Ich habe ja noch nicht mal geschellt." 

Ich nahm einen Waschlappen aus meiner linken Hosentasche, den ich am Vortag extra gekauft hatte, weil er so weich war. Frau Irle hatte sich doch immer über die Wäsche beschwert. Ich begann, ihr vorsichtig den Rücken zu waschen. Als ich fertig war, legte ich den Waschlappen aufs Waschbecken. Frau Irle drehte ihr Gesicht zum Waschbecken und dann zu mir. "Hat das Haus jetzt etwa ein Herz für die Bewohner? Oder was soll dieser weiche Waschlappen bedeuten?" 

"Nein Frau Irle, den habe ich gestern gekauft." 

Sie wandte ihr Gesicht wieder dem Spiegel zu und nahm ihre Schönheitsprozedur erneut auf. 

Als ich mit der Pflege fertig war, fragte ich Frau Irle, ob sie noch etwas brauchte. 

"Nein, Schwester Katharina, es ist jetzt alles in Ordnung." 

"Dann bis gleich, Frau Irle. Ich bringe ihnen nachher ihr Frühstück." 

Mit einem versteckten Lächeln sagte die Dame: "Na, Gott sei Dank, wird mein Aufschnitt heute nicht ausgetrocknet sein." 

Ich verließ das Zimmer mit dem Gedanken, dass sich unter jeder harten Schale ein weicher Kern verbarg. 

 

Es vergingen mehrere Monate und ich konnte noch mehr Vertrauen von Frau Irle gewinnen. Ich besuchte sie oft in meiner Freizeit und wir unternahmen viele Ausflüge mit ihr. 

Es war ein warmer Sommernachmittag und ich hatte Urlaub. Ich lud Frau Irle in unser Lieblingscafé ein. Es war nicht weit vom Pflegeheim und hatte einen antiken, rustikalen Stil. Draußen und drinnen gab es dunkelbraune, lackierte alte Tische mit Bänken und Stühlen. Überall hingen alte Gemälde mit vergoldeten Bilderrahmen und Bergen als Motiv. Auf den Tischen standen runde Gold farbende, mit Blumen bestückte Vasen. Wir gingen rein und setzten uns neben das Fenster, weil es für Frau Irle draußen zu warm war. Sie erzählte mir, dass heute ein neuer Mitarbeiter von der Leihfirma da gewesen sei – "mal wieder", so drückte sie sich aus. Frau Irle mochte keine Wechsel. Für sie war Routine wichtig.

 "Na ja, Frau Irle, sie wissen doch, in einer Woche bin ich wieder da", sagte ich, als mich plötzlich ein Schauer überfiel. Draußen saß eine Frau, die ich schon einige Monate nicht gesehen hatte. 

"Schwester Katharina, ist alles in Ordnung? Oder haben sie ein Gespenst gesehen?"

"Nein, Frau Irle, alles ok." Dabei schaute ich immer noch wie erstarrt aus dem Fenster. "Ich müsste kurz auf die Toilette", sagte ich, "gleich bin ich wieder bei Ihnen." Ich nahm meine Handtasche und ging Richtung Toilette. Doch noch bevor ich die Tür öffnen konnte, hörte ich hinter mir eine vertraute Stimme, die meinen Vornamen rief. Sie zog ihn ziemlich in die Länge. Mit rasendem Herzen drehte ich mich um. 

"Hallo Mutter. Na, bist du wieder hier?"

"Na ja, ab und zu zieht es mich in meine bescheidene Heimat zurück. Und wie geht es dir?" Sie zog ihre aufgemalten Augenbrauen nach oben. "Ich schätze, du kommst aus diesem sogenannten Städtchen nicht mehr raus." 

In diesem Augenblick rief Frau Irle nach mir. "Schwester Katharina, können wir vielleicht jetzt gehen?" 

Ich war froh, dass sie mich aus dieser Situation herausholte. Wir fuhren zurück ins Heim. Unterwegs erzählte ich ihr von meiner Mutter. Früher waren wir oft in diesem Café gewesen. Zum Abschied sagte ich Frau Irle, dass wir uns in ein paar Tagen wiedersehen würden, wenn ich zur Frühschicht käme. 

 

Am nächsten Tag klingelte mein Telefon. Die Nummer war mir nicht unbekannt. Ich nahm den Hörer ab, und tatsächlich war am anderen Ende der Leitung meine so geliebte und "verständnisvolle" Mutter. 

"Hättest du morgen mal Zeit", fragte sie mich. "Vielleicht in dem Café, wo du gestern mit der alten Schachtel warst – so gegen 16 Uhr, wäre dir das recht?"

"Ja, Mutter, ich werde da sein." 

In dieser Nacht schlief ich schlecht. Ihre ständigen Vorwürfe schwirrten mir im Kopf herum. Aber ich dachte, schlimmer konnte es morgen auch nicht werden. Und so schlief ich irgendwann ein. 

Meine Mutter und ich saßen nach einer langen Zeit wieder in unserem Lieblingscafé. Die Wärme vom Vortag spürte ich in diesem Augenblick nicht. Vielmehr war es die Kälte, die vor mir saß und sich die Karte anschaute, obwohl ich wusste, dass sie außer einem Glas Wasser nichts bestellen würde. 

"Macht es dir denn wirklich Spaß?", fragte sie mich lachend und blätterte weiter in der Karte, als würde sie nicht wissen, was sie zu bestellen wünschte. "Wie kannst du nur ein Arschwischer sein?" Mit langsamen Bewegungen schüttelte sie den Kopf. Ihre Augenbrauen zog sie zusammen. 

"So nennst du mich also? Und was, wenn du älter wirst? Wer soll dich pflegen?" 

"Ganz bestimmt nicht du." Wieder lachte sie. 

Ich musste mich zusammenreißen. Vor mehr als einem Jahr hatte meine Mutter geheiratet. Einen Mann, der ihr Vater sein könnte. Im Leben meiner Mutter spielte Geld eine große Rolle. Ihr Ehemann war ein hochangesehener Leiter in einem großen Vertriebsunternehmen. Meine Mutter hatte er als seine Sekretärin eingestellt. Sie war zu der Frau geworden, die ich nie sein wollte: immer enganliegende Kostüme, Mascara im Gesicht, als ob jeden Tag Karneval wäre, hohe Schuhe und Nägel, als wollte sie mit ihnen schaufeln. 

"Mutter, du verstehst meinen Beruf nicht! Weißt du, was ich den Menschen gebe?" 

Sie lachte. "Klar, einen Waschlappen ins Gesicht! " 

"Was denkst du, wer dir später deine Vorlagen wechselt? Der Ingo von nebenan bestimmt nicht!" 

"Aber du solltest doch was Vernünftiges lernen! Komm zu uns in die Firma, und ich erfülle dir jeden Wunsch." 

Die Vorwürfe gingen hin und her. Dann wurde meine Mutter kurz still. 

"Aber was hast du jetzt vor mit deinem Leben? Das Geld reicht dir doch vorne und hinten nicht, das sehe ich dir doch an. Und glaub mir, dein Rücken wird dich bald auch nicht mehr entzücken. Überleg dir das doch nochmal. Warum gehst du nicht einfach wieder zur Schule und lernst was Vernünftiges?" 

Die Uhr zeigte nach 17 Uhr. Draußen in der Passage waren immer weniger Menschen zu sehen. Es wurde Zeit zu gehen. Dieses Gespräch führte wie immer zu nichts. Ich bat die Kellnerin nach der Rechnung, bezahlte und verabschiedete mich. Auf dem Weg nach Hause dachte ich darüber nach, was meine Mutter gesagt hatte. Eine Ausbildung zur Altenpflegerin, anstatt weiterhin als ungelernte Pflegehelferin zu arbeiten, wäre eigentlich gar nicht schlecht. Ich würde in meinem Beruf bleiben, und das Geld? Na ja, damit könnte ich mir vielleicht einmal im Jahr eine kleine Reise leisten. 

 

Zurück aus meinem Urlaub kam ich erholt in meinen Wohnbereich zurück. Ich freute mich sehr, wieder bei meinen Bewohnern zu sein, aber das Gespräch mit meiner Mutter ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich erzählte Frau Irle von dem Treffen mit meiner Mutter. Sie war sprachlos von ihrer Einstellung. 

"Und was machen sie jetzt, Schwester Katharina?"

"Ich gehe heute zu meinem Chef und ihn, was er davon hält, wenn ich eine Ausbildung beginne."

Und so ging ich nach Feierabend zu Herrn Brugg. Er war ein stabiler Mann, der über 30 Jahre als Heimleiter gearbeitet hatte. Er war begeistert von meiner Idee. "Dann schreiben Sie eine Bewerbung, und ab Oktober sind sie dabei." 

Das tat dich noch an demselben Abend. Und am nächsten Tag gab ich meine Bewerbung ab. 

Bis Oktober arbeitete ich noch als Pflegehelferin. Dann war es soweit, und ich hatte meinen ersten Schulblock. Am Anfang war es noch nicht schwer. Regelmäßig besuchte ich Frau Irle, und wir machten gemeinsame Ausflüge. Doch dann hatte ich immer weniger Zeit. In den letzten zwei Wochen konnte ich Frau Irle nicht mehr besuchen, weil ich mich auf die Modulprüfung konzentrieren musste. 

Nach meinem anstrengenden Schulblock kam ich endlich in mein Pflegeheim. Natürlich hatte ich gehofft, ich würde auf meinem Wohnbereich bleiben. Aber ich wurde auf einen anderen Wohnbereich versetzt, was auch völlig okay war, aber trotzdem vermisste ich meinen früheren Wohnbereich. In meiner Pause besuchte ich Frau Irle, weil ich sie schon über zwei Wochen nicht gesehen hatte. Ich klopfte an ihre Tür, und sie bat mich herein. Was ich erst kurz vorher erfahren hatte, nahm mich ziemlich mit. Der Bruder von Frau Irle lag im Sterben. Umso schwieriger war es für mich. 

Frau Irle saß auf ihrem alten dunklen Sessel und entfernte Fussel von ihrem blauen Pullover. Das tat sie immer, wenn sie ängstlich war. Aber ich hatte das schon länger nicht mehr gesehen. Was konnte ich sagen? Ich wollte keinen Fehler machen. Denn nur ihr Bruder und ich waren ihre Bezugspersonen. Ich ging zu ihr und setzte mich auf den kleinen Hocker, den sie immer als Fußstütze benutzte. Ich wollte sie fragen, wie es ihr gehe, aber bevor ich etwas sagen konnte, schaute sie mich an und sprach mit leiser Stimme: 

"Zuerst hast du mich verlassen, und jetzt will er auch noch gehen." Sie schaute zu Boden und bat mich rauszugehen, was ich natürlich tat. 

Nach ein paar Minuten hörte ich dann leise Schritte, die immer lauter wurden und sich der Tür näherten. Ich ging einen Schritt zurück, und Frau Irle öffnete die Tür. Sie bat mich, wieder hereinzukommen und mich auf das Bett zu setzen. Sie setzte sich neben mich und fing wieder an, die Fussel von ihrem blauen Kaschmir-Pullover zu entfernen. 

Da traute ich mich etwas. Ich fragte sie, was sie davon halten würde, wenn wir kurz ihren Bruder besuchten. Was ich mir in dem Moment gedacht habe? Na ja, sie war doch immer nach dem Mittagessen zu ihrem Bruder gegangen, und gemeinsam hatten sie die Zeit bis zum Abendbrot verbracht.

Sie stand plötzlich auf und ging mit langsamen Schritten zu ihrem antiken Schreibtisch. Aus der rechten Schublade nahm sie ein Foto. Sie kam zu mir und gab mir das Foto in die Hand. 

"Mein Kind, das Foto ist vom letzten Jahr, als er noch aktiv und gesund war. So möchte ich ihn auch in Erinnerung behalten, verstehst du das?" 

Dann nahm sie mir das Foto wieder aus der Hand, legte es auf den kleinen Hocker und fing an, über die enttäuschenden Mahlzeiten im Pflegeheim zu sprechen. Meine Pause war um, ich musste wieder in meinem neuen Wohnbereich. 

Der Tag erschien mir nun trüb und endlos schwer. Ich wusste nicht, wie ich Frau Irle helfen sollte. Zwei Tage vergingen, dann besuchte ich Frau Irle wieder in meiner Pause. Sie saß auf ihrem Balkon mit der Kuscheldecke, die ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. 

"Frau Irle, ich habe bald Feierabend", sagte ich. "Sollen wir dann etwas spazieren gehen?"

"Ja, mein Kind, komm einfach zu mir, ich werde soweit sein." 

Nach Feierabend ging ich zu ihr. Sie trug eine schwarze Hose, eine dunkle Satinbluse mit einer Brosche auf der Brusttasche. Sie fragte: "Ist es jetzt dann soweit?" 

"Ja, Frau Irle. Wohin sollen wir denn gehen?" 

Kurz schaute sie mich still an. Dann sagte sie: "Ich will einmal in die Vergangenheit reisen und alles wieder sehen." Frau Irle setzte sich in ihren Sessel und zog den kleinen Hocker daneben. Darauf sollte ich Platz nehmen. 

"Wir hatten eine schöne Kindheit", begann sie zu erzählen. "Mein Bruder und ich waren immer füreinander da. Wir haben viel gesehen und sind zusammen viel verreist. Später hatte er seine Ehefrau und seine Kinder. Dieses Glück hatte ich leider nicht. Er war ein guter Vater, Ehemann und Bruder und hat viel Gutes getan. Er war auch ein leidenschaftlicher Biker, der sich immer für andere stark gemacht hat. Er hatte ein erfülltes Leben. Jetzt ist er müde und möchte vielleicht einfach gehen. Seine Kinder haben sich verabschiedet, aber ich weiß, warum er einfach noch nicht gehen kann. Er braucht dafür meinen Segen, und das bin ich ihm  einfach schuldig." 

In diesem Moment kamen mir die Tränen. Ich nahm Frau Irle in den Arm und sagte leise, wie leid es mir tue, dass ich in den letzten Wochen nicht für sie da sein konnte. Sie beruhigte mich und sagte, es sei jetzt wieder alles gut. "Nimm einfach meine Hand, und geh mit mir dieses letzte Mal zu meinem Bruder." 

Ich ergriff ihre Hand. Gemeinsam gingen wir zur Tür. Frau Irle öffnete sie. 
"So, mein Kind, jetzt ist es soweit."

 

Schreibwerkstatt am Möhnesee
Ein Teil des Teams der Schreibwerkstatt
Autor Sascha Pranschke, Coach der Schreibwerkstatt
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Schulung der PoetrySlammer in Kamen
Filmaufnahmen der PoetrySlammer in Kamen
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Astrid Höltken, Projektleitung
Interview der PoetrySlammer auf der After School Party in der DASA, Dortmund
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Filmbeitrag PoetrySlam: OLIGMÜLLER FOTODESIGN, Essen